Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse
plötzlich einen der Kandelaber ergriff, sich erhob und mit schweren Schritten auf die Hinterkammer zuging.
Sie stand wie gelähmt da. Sie war entdeckt! Sie fuhr herum, stürzte zur Seite, duckte sich in die Ecke neben eine Kiste und zog sich einen Fetzen alten Tuchs über das glänzende Haar.
Der Vorhang teilte sich. Kerzenlicht erhellte flakkernd die Kammer. Suldrun duckte sich noch tiefer, erwartete die Stimme König Casmirs. Aber der König stand schweigend da, die Nüstern gebläht. Vielleicht roch er den Duft des Lavendels in Suldruns Kleidern. Er warf einen raschen Blick über die Schulter, dann ging er zur Rückwand der Kammer. Aus einem Spalt zog er einen dünnen Eisenstab und stieß ihn in ein kleines Loch in der Höhe seines Knies. Dann zog er ihn wieder heraus und schob ihn in ein zweites, etwas höheres Loch. Eine Tür öffnete sich. Ein flimmerndes, fast greifbar scheinendes Licht kam dahinter zum Vorschein, ein flackerndes Wechselspiel aus Purpur und Grün. Aus dem Raum strömte das knisternde Prickeln von Magie. Zwei hohe Stimmen stießen meckernde Schreie aus.
»Schweigt!« herrschte König Casmir sie an. Dann trat er in den Raum und schloß die Tür hinter sich.
Suldrun sprang aus ihrer Ecke und jagte aus dem Raum. Sie rannte durch das Ehrenhaus, huschte in den Großen Palas und von dort weiter in die Große Galerie. Ruhig, als sei nichts gewesen, stieg sie hoch in ihre Gemächer, wo Dame Maugelin sie wegen ihrer verschmutzten Kleider und ihres verschmierten Gesichts ausschalt.
Suldrun badete und schlüpfte in ein warmes Kleid. Dann ging sie zum Fenster mit ihrer Laute und tat so, als übe sie, wobei sie dem Instrument solch fürchterliche Mißklänge entlockte, daß Dame Maugelin die Hände über dem Kopf zusammenschlug und hastig die Flucht ergriff.
Nun war Suldrun allein. Sie legte die Laute beiseite und schaute zum Fenster hinaus auf das Land. Es war später Nachmittag; das Wetter war umgeschlagen: Sonnenlicht glänzte auf den nassen Dächern von Lyonesse.
Langsam, Stück für Stück, ließ Suldrun die Ereignisse des Tages an ihrem inneren Auge vorüberziehen.
Die drei Abgesandten aus Dahaut interessierten sie wenig, außer daß sie sie nach Avallon mitnehmen und mit einem fremden Mann verheiraten wollten. Niemals! Sie würde weglaufen! Sie würde Bäuerin werden oder Musikantin oder Pilze sammeln in den Wäldern!
Der geheime Raum hinter dem Ehrenhaus schien an sich weder außergewöhnlich noch bemerkenswert. Im Gegenteil, er bestätigte nur ihre vagen, halb ausgegorenen Vermutungen bezüglich König Casmirs, der solch absolute, furchtbare Macht ausübte!
Dame Maugelin kam zurück, schwer atmend vor Aufregung. »Dein Vater befiehlt dich zum Bankett. Er wünscht, daß du so erscheinst, wie es sich für eine schöne Prinzessin von Lyonesse geziemt. Hörst du? Du darfst dein blaues Samtgewand und deine Mondsteine anlegen. Und daß du allzeit die Hofetikette beachtest! Verschütte dein Essen nicht! Trink ganz wenig Wein! Sprich nur, wenn du gefragt bist, und dann antworte höflich und deutlich, und ohne zu kauen! Kichre nicht, kratz dich nicht, zapple nicht auf deinem Stuhl herum, so als ob dir der Hintern juckt! Rülpse nicht, gurgle nicht, schmatze nicht, schlinge nicht! Wenn jemand einen fahren läßt, dann starre oder zeige nicht auf ihn! Natürlich mußt du selbst dich auch beherrschen; nichts ist auffälliger als eine furzende Prinzessin. Komm! Ich muß dir das Haar bürsten!«
Als Suldrun am darauffolgenden Morgen in die Bibliothek zu ihren Lektionen gingen, war Meister Jaimes noch immer nicht da, und auch tags darauf und am übernächsten Tag fehlte er. Suldrun wurde ein wenig verdrießlich. Hätte er sich denn nicht trotz seiner Unpäßlichkeit bei ihr melden können? Eine ganze Woche lang hielt sie sich demonstrativ von der Bibliothek fern, und immer noch keine Nachricht von Meister Jaimes!
Von einer plötzlichen Ahnung gepackt, suchte Suldrun Dame Boudetta auf, die sofort einen Lakaien in Meister Jaimes' armselige kleine Kammer im Westturm schickte. Der Lakai fand Meister Jaimes tot auf seinem Strohbett liegend, alle viere von sich gestreckt. Sein Fieber hatte sich zu einer Lungenentzündung verschärft, und er war einsam und elend gestorben.
4
Eines Morgens in dem Sommer vor ihrem zehnten Geburtstag ging Suldrun in den Salon im dritten Stockwerk des gedrungenen alten Eulenturms zu ihrer Tanzstunde. Für sie war dieser Raum der vielleicht schönste
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