Lyonesse 2 - Die grüne Perle
Sattel ab und ließ das Tier laufen. Dies war ein ernstes Mißgeschick; unversehens rächte sich nun sein törichtes Tun, sich ohne eine Nachricht zu hinterlassen auf die Verfolgung Tatzels gemacht zu haben.
Doch war noch lange nicht alles verloren. Er schulterte seinen Ranzen und nahm zu Fuß die Verfolgung Tatzels auf. Ihr Pferd war so erschöpft und das Gelände war so steil und uneben, daß er erneut rasch Boden gutmachte. Noch zwei Minuten, und er würde sie stellen.
Tatzel erkannte dies. Sie warf einen verzweifelten Blick über das Land, aber nirgends bot sich Hilfe an; Aillas, der ihren Gesichtsausdruck sah, als sie den Blick in seine Richtung wandte, konnte sich einer Aufwallung von Mitgefühl nicht erwehren.
Doch sein Herz verhärtete sich. »Tatzel, liebe kleine Tatzel, die du den Kopf so hoch trägst! Du hast viel Verzweiflung und Furcht und Kummer bei anderen erlebt; warum solltest du dergleichen nicht selbst einmal spüren?«
Tatzel gelangte zu einer Entscheidung. Wenn sie weiterritt, würde Aillas sie bald eingeholt haben. Zu ihrer Linken öffnete sich ein Tal mit steilen Felswänden. Tatzel hielt einen Moment inne, holte tief Luft; dann sprang sie vom Pferd und zog es über den Rand des Abhangs. Mit weit aufgerissenen Augen, vor Todesangst laut wiehernd, rutschte die Stute stolpernd und schlitternd den Hang hinunter. Sie verlor den Halt, strauchelte und rollte, mit wild peitschenden Hufen um die eigene Achse wirbelnd, den Hals grotesk verdreht, in die Tiefe. Der Hang nahm an Gefälle zu; tief unten schlug das Pferd mit voller Wucht auf einem Felsbrocken auf und blieb regungslos liegen.
Tatzel folgte ihrem Reittier. Sie rutschte auf Händen und Knien, versuchte, sich an Büschen und Sträuchern festzuhalten, um ihren Schwung zu bremsen. Da geriet sie auf einen Abschnitt aus lockerem Geröll; es gab tückisch unter ihren Füßen nach und löste einen Erdrutsch aus, der sie mit zu Tale riß, wo sie benommen liegenblieb. Als sie wieder zu sich kam, versuchte sie aufzustehen, aber das linke Bein knickte ihr weg, und sie sank mit einem leisen Aufschrei wieder zu Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht starrte sie auf ihr gebrochenes Bein.
Aillas hatte besorgt ihren verhängnisvollen Sturz verfolgt, nun suchte er sich eine sicherere Route und begab sich an den Abstieg.
Tatzel saß mit dem Rücken gegen einen Felsen gelehnt, das Gesicht weiß vor Schmerzen. Er schaute zu ihrem Pferd, das sich den Rücken gebrochen hatte und keuchend dalag, blutigen Schaum vor dem Maul. Aillas versetzte ihm rasch mit seinem Schwert den Gnadenstoß, und das Pferd wurde still.
Aillas wandte sich wieder Tatzel zu und kniete sich neben ihr nieder. »Seid Ihr verletzt?«
»Mein Bein ist gebrochen.«
Aillas suchte eine Stelle sandigen Untergrunds und trug sie dorthin. Dann versuchte er so behutsam wie möglich, das Bein zu richten. Soweit er beurteilen konnte, war es ein glatter Bruch, der in der Hauptsache geschient werden mußte.
Er stand auf und schaute sich um. Früher einmal hatten auf den Flußauen mehrere Bauernhöfe gestanden. Außer ein paar verfallenen Ruinen und Mauerresten war von ihnen nichts übriggeblieben. Er sah kein Lebewesen und sah nirgends Rauch aufsteigen. Trotzdem war Vorsicht geboten: entlang dem Fluß waren, wenn auch nur schwach, Spuren eines Pfades zu erkennen; das Tal schien also nicht gänzlich von jedem Verkehr unberührt zu sein.
Aillas ging zum Ufer des Flusses und schnitt zwei Dutzend Weidenruten. Er ging zu Tatzel zurück, schälte die Rinde ab und reichte sie ihr. »Kaut das; es hilft den Schmerz lindern.«
Sodann ging er zu dem toten Pferd und holte Tatzels Mantel, die Satteldecke, ihre kleine, mit Gold beschlagene schwarze Ledertasche sowie Gurte und Schnallen von Zaumzeug und Sattel.
Nachdem er ihr mehr von der Weidenrinde zum Kauen gegeben hatte, schnitt er ihr mit seinem Messer das Hosenbein bis zu ihrem schlanken Knie auf. Er schlug den Stoff zur Seite, um das Bein zu entblößen.
»Ich bin kein Knocheneinrichter«, erklärte Aillas. »Ich kann nur das für Euch tun, was ich andere für andere habe tun sehen. Ich werde mich bemühen, Euch keine Schmerzen zu bereiten.«
Tatzel wußte nichts zu erwidern. Sie fand die Umstände höchst verwirrend. Aillas' Verhalten schien weder grausam noch beängstigend; wenn er darauf aus war, sie zu vergewaltigen, würde er sich dann erst die Mühe machen, ihr gebrochenes Bein zu schienen?
Aillas schnitt einen Streifen Stoff aus ihrem Mantel und
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