Lyonesse 2 - Die grüne Perle
mir zu tragen?«
Orlo streckte die Hände aus. »Wollt Ihr es hierlassen, damit ein armer Wicht von Schankbursche sie nimmt?«
Sir Tristano spaltete grimmig einen neuen Zweig und klemmte die Perle in die Gabelung. »Laßt uns gehen!«
Die beiden Männer holten ihre Pferde aus dem Mietstall und verließen Dun Cruighre. Die Straße führte anfangs am Ufer entlang, vorbei an sandigen Stränden, die von der Brandung überspült wurden, und gelegentlich auch an einer Fischerhütte. Beim Reiten sprachen sie weiter über die Perle.
»Wenn ich über diesen seltsamen Gegenstand nachdenke«, sagte Orlo, »so ist mir, als sei da ein gewisses Muster zu erkennen. Die Perle fiel auf die Erde und gehörte niemandem mehr. Der Taschendieb stürzte sich darauf, und sie wurde sein. Ihr tratet dem Dieb auf das Handgelenk, entwandet ihm letztlich die Perle und nahmt sie in Euren Gewahrsam. Aber da Ihr sie nicht angerührt habt, kann sie Euch nicht mit ihrem Zauber belegen.«
»Dann glaubt Ihr, sie kann mir nur schaden, wenn ich sie berühre?«
»Das ist meine Vermutung – insofern, als ein solches Unterfangen ein Ausdruck Eurer Absicht wäre, am Bösen dieser Perle teilzuhaben.«
»Ich bestreite ausdrücklich jede derartige Absicht und erkläre hiermit, daß jegliche Berührung, sollte sie stattfinden, von allen an einem solchen Ereignis beteiligten Parteien als zufällig und unbeabsichtigt zu betrachten ist.« Sir Tristano sah Orlo an. »Was sagt Ihr dazu?«
Orlo hob die Schultern. »Wer weiß? Vielleicht erstickt ein solches Dementi die bösartige Glut der Perle, vielleicht auch nicht.«
Die Straße wandte sich landeinwärts, und nach einer Weile deutete Sir Tristano nach vorn. »Seht den Glockenturm, der dort so hoch über die Bäume ragt! Gewiß ist dies die Kirche eines Dorfes.«
»Zweifellos. Sie haben viel übrig für Kirchen, diese Kelten; dennoch sind sie eher Heiden denn Christen. In jedem Wald werdet Ihr einen Druidenhain finden, und wenn der Vollmond scheint, binden sie sich Geweihe an die Köpfe und springen durch ein Feuer. Wie steht's damit in Troicinet?«
»An Druiden haben wir keinen Mangel«, antwortete Sir Tristano. »Sie verstecken sich aber im Wald, und man sieht sie selten. Die meisten Leute verehren die Erdgöttin Gaea – allerdings auf gemütliche Weise, ohne Blut, ohne Feuer und ohne Schuldgefühle. Wir feiern nur vier Feste: Das Fest des Lebens im Frühling, das Fest der Sonne und des Himmels im Sommer, das Fest der Erde und der See im Herbst und das Fest des Mondes und der Sterne im Winter. An unserem Geburtstag legen wir eine Gabe von Brot und Wein auf den Votivstein im Tempel. Es gibt weder Priester noch eine amtliche Lehre; das ermöglicht uns einfache, ehrliche Anbetung, und es scheint der Natur unseres Volkes entgegenzukommen ... Und da ist das Dorf mit seiner großartigen Kirche, wo, wenn mein Auge mich nicht täuscht, eine wichtige Zeremonie im Gange ist.«
»Was Ihr da seht, ist eine christliche Beerdigung in ihrer ganzen Pracht«, erläuterte Orlo. Er zügelte sein Pferd und schlug sich auf den Schenkel. »Ein bemerkenswerter Plan kommt mir da in den Sinn. Laßt uns bei diesem Begräbnis zuschauen!«
Die beiden Männer stiegen ab, banden die Pferde an einen Baum und betraten die Kirche. Drei Priester standen singend an einem offenen Sarg, während die Trauernden daran vorbeizogen und dem Toten die letzte Ehre erwiesen.
»Was führt Ihr denn im Schilde?« erkundigte sich Sir Tristano mit beunruhigtem Unterton.
»Ich könnte mir vorstellen, daß der heilige Ritus einer christlichen Bestattung die bösen Kräfte der Perle wirkungsvoll ersticken kann. Die Priester sprechen Segensformeln im Dutzend, und die Luft ist zum Schneiden dick von christlicher Tugend. Gewiß ist die Perle absolut und für alle Zeit vernichtet, wenn sie von solcher Macht umgeben ist.«
»Möglich.« Tristano schien zu zweifeln. »Praktische Schwierigkeiten stehen dem indes entgegen. Wir können das Trauerritual unmöglich stören.«
»Das ist auch ganz unnötig«, erwiderte Orlo munter. »Gesellen wir uns in die Reihe der Trauernden. Wenn wir den Sarg erreicht haben, lenke ich die Priester ab, derweil Ihr die Perle zwischen die Leichentücher steckt.«
»Einen Versuch ist es immerhin wert«, meinte Tristano, und so geschah es.
Die beiden traten zurück, und der Sargdeckel schloß sich über Leichnam und Perle. Vier Totengräber schleppten den Sarg zu einem tiefen Grab, das man in den weichen Boden des Friedhofs
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