Lyonesse 2 - Die grüne Perle
unter die Plattform; der Soldat packte den Arm und zerrte einen graugesichtigen kleinen Mann mit einer langen gebrochenen Nase hervor. »Was haben wir denn hier?«
»Einen Strolch und Taschendieb, wenn ich mich nicht sehr irre«, stellte Sir Tristano fest. »Untersuch seinen Beutel und stell fest, was er alles gestohlen hat.«
Der Taschendieb wurde auf die Plattform geschleppt. Man krempelte seinen Beutel um und fand Münzen Broschen, goldene Ketten, Spangen undKnöpfe. Überall in der Menge meldeten erregte Leute ihre Ansprüche an.
Lord Emmence erhob sich. »Ich entdecke hier ein Unterfangen von reinster Unverschämtheit! Während wir uns des einen Diebes entledigen, macht ein anderer unter uns seine Runde und stiehlt Schmuck und Zierrat, den wir zu diesem Anlaß angelegt haben. Henker, deine Axt ist scharf. Der Block steht bereit. Deine Muskeln sind gespannt. Heute sollst du dir doppelten Lohn verdienen! Priester, nimm diesem Mann die Beichte ab und erleichtere seine Seele für die Reise, die sie unternehmen wird.«
Sir Tristano wandte sich an Orlo. »Ich habe genug vom Köpfeabhacken; laßt uns zu Met und Honigkuchen zurückkehren ... Aber was fangen wir mit der Perle an? Wir können sie nicht im Staub liegen lassen.«
»Wartet!« Orlo suchte sich einen Zweig und spaltete ihn mit seinem Messer. Dann klemmte er die Perle geschickt in die künstliche Gabelung. »In solchen Dingen kann man nicht vorsichtig genug sein. Allein heute haben wir schon das Schicksal zweier Menschen gesehen, die gierig nach der Perle gegriffen haben.«
»Ich will sie nicht«, sagte Sir Tristano. »Sie gehört Euch.«
»Unmöglich! Erinnert Euch gütigst, daß ich ein Armutsgelübde abgelegt habe. Oder, besser gesagt, daß ich mich mit diesem Zustand abgefunden habe.«
Mit spitzen Fingern hob Sir Tristano den Zweig auf, und die beiden kehrten zum
Blauen Ochsen
zurück, wo sie sich bei ihren Erfrischungen niederließen. »Es ist gerade erst Mittag«, stellte Sir Tristano fest. »Ich hatte vor, mich heute auf die Straße nach Avallon zu begeben.«
»Dazu neige ich auch«, sagte Orlo. »Wollen wir zusammen reiten?«
»Eure Gesellschaft ist mir willkommen. Aber was ist mit der Perle?«
Orlo kratzte sich die Wange. »Jetzt, da ich's mir überlege, wüßte ich nicht, was einfacher wäre. Wir gehen zum Pier, werfen die Perle in den Hafen, und damit hat sich's.«
»Vernünftig! Dann nehmt die Perle immerhin mit.«
Orlo blinzelte angewidert auf die Perle hinunter. »Es geht mir wie Euch. Mir wird mulmig, wenn ich den schwülen Glanz dieses Dings sehe. Aber nun stecken wir einmal beide in dieser Sache, und so muß es gerecht zugehen.« Er deutete auf eine Fliege, die sich auf dem Tisch niedergelassen hatte. »Legt Eure Hand neben die meine. Ich bewege meine zuerst, dann müßt Ihr die Eure bewegen, so heftig oder so wenig, wie Ihr wollt, aber Ihr müßt immer mindestens so weit vorrücken wie ich. Wenn die Fliege schließlich erschrocken wegfliegt, soll derjenige, der seine Hand zuletzt bewegt hat, die Perle tragen.«
»Einverstanden.«
Die Probe aufs Exempel ward gemacht; jeder verschob die Hand entsprechend seiner Deutung der Empfindungen, die das Insekt bewegten. Am Ende erschrak das Tier ob einer gar zu hastigen Bewegung Sir Tristanos und summte davon.
Sir Tristano stöhnte. »O weh! Nun muß ich die Perle tragen.«
»Aber nicht lange, und nur bis zum Kai.«
Mit spitzen Fingern hob Sir Tristano den Zweig, und zusammen überquerten die beiden den Platz und begaben sich zu einer menschenleeren Stelle am Hafenkai, wo sie sich von der Skyre umschlossen sahen.
»Perle, leb wohl!« sagte Orlo. »Nunmehr geben wir dich dem salzigen grünen Element zurück, dem du entstammst. Sir Tristano, werft sie fort, und zwar mit Entschlossenheit!«
Tristano schleuderte Zweig und Perle ins Meer. Die beiden sahen zu, wie das Kleinod versank, und kehrten dann an ihren Tisch zurück. Dort aber fanden sie die Perle; sauber und naß lag sie an Sir Tristanos Platz, und bei ihrem Anblick sträubten sich ihm die Nackenhaare.
»Haha!« lachte Orlo. »Das Ding will seinen Scherz mit uns treiben! Es soll sich nur vorsehen! Wir sind nicht mittellos. Wie auch immer, Herr Ritter, die Zeit steht nicht still, und unser Weg ist noch weit. Nehmt die Perle und laßt uns aufbrechen. Vielleicht begegnen wir dem Erzbischof; der wird für ein solches Geschenk dankbar sein.«
Sir Tristano betrachtete die Perle zweifelnd. »Wollt Ihr mir raten, diesen Gegenstand bei
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