Lyonesse 2 - Die grüne Perle
draußen auf dem Hochmoor, wo die Lebensbedingungen hart sind, ist ›Teilen‹ die Losung, und jeder gibt rückhaltlos von dem, was er hat! Ich öffne meine Speisekammer weit und entfache mein bestes und fröhlichstes Feuer; Ihr seid von gleichem Charakter mit Eurem Überfluß an Silbermünzen; auf diese Weise honorieren wir uns gegenseitig!«
»Da habt Ihr den Nagel auf den Kopf getroffen!« erklärte Aillas. »Ich werde meinen schmalen Vorrat an Silbermünzen zusammenrechnen, und was immer ich davon für überflüssig erachte, das sollt ihr haben!
Wir sind uns einig; laßt uns das Thema denn beschließen.«
Als das Abendessen beendet war, setzte Threlka Tatzel auf einen Stuhl und legte ihr gebrochenes Bein auf einen Schemel. Als erstes schnitt sie die Reste der dunkelgrünen Hose weg, die inzwischen zerlumpt und fleckig geworden war. »Das ist keine gute Farbe zum Heilen. Wir werden Euch gewöhnliche Kleider heraussuchen, von denen Ihr profitieren werdet. Eure Jacke könnt Ihr auch gleich ausziehen ... Na komm schon, Mädchen«, sagte sie, als Tatzel zögerte. »Cwyd schert sich nicht um deine Brüste; er hat sie schon zu Hunderten bei Kühen und Schafen gesehen, und sie sind alle gleich. Manchmal glaube ich, daß Sittsamkeit bloß ein Kniff ist, mit dem wir einen Unterschied zu den Tieren vorspiegeln wollen. Doch ach! Wir sind uns nur gar zu ähnlich, die Tiere und wir. Aber, aber! Wenn du dich unbehaglich fühlst, dann zieh diese Bluse an.«
Threlka entfernte die Schiene und warf sie ins Feuer. »Brenne, Holz, brenne! Schmerzen, löst euch in Rauch auf und fliegt durch den Kamin davon; quält Tatzel nicht länger!« Aus einem schwarzen Krug goß sie eine Melasse auf Tatzels Bein, dann streute sie zerstoßene getrocknete Blätter darüber. Sie umwickelte das Schienbein mit einem lockeren Verband und befestigte diesen mit einer roten Schnur. »Das wär's! Morgen früh wirst du keine Schwäche mehr spüren.«
»Danke«, sagte Tatzel mit einem matten Lächeln.
»Die Schiene war sehr lästig. Wie kann ich Euch für Eure Dienste entlohnen?«
»Euer Lächeln ist mir Entgelt genug«, sagte Threlka. »Oh, wenn es Euch nichts ausmacht, gebt mir drei Haare von Eurem Kopf zur Erinnerung; das soll genügen.«
»Es genügt nicht«, wandte Aillas ein. »Hier ist ein Silberpfennig; er ist soviel wert wie ein ganzer Haarschopf und überdies ungeeignet für magische Zwekke, sollte er in die falschen Hände geraten.«
»Ja, das ist Klugheit«, pflichtete Cwyd ihm bei. »Und nun ist es Zeit zum Schlafen.«
Die ganze Nacht hindurch heulte und tobte der Sturm über das Hochmoor; erst gegen Morgen flaute er langsam ab. Die Sonne ging in einem grandiosen Spektakel aus Schwarz, Weiß, Rot, Rosa und Grau auf; dann setzte sie sich durch und sandte aus einem eigentümlich schwarzen Himmel lange Strahlen rosafarbenen Lichts über das Moor.
Cwyd blies das Feuer an, und Threlka machte Hafergrütze, die sie mit Milch, Beeren und Streifen gebratenen Specks, den Aillas beisteuerte, verzehrten.
Threlka entfernte den Verband von Tatzels Bein und warf ihn ins Feuer. Dann sprach sie eine Beschwörungsformel: »Steh auf, Tatzel, und wandle! Dein Bein ist wiederhergestellt!«
Behutsam belastete Tatzel das Bein, und zu ihrer Freude spürte sie weder Schmerzen noch Steifheit.
Aillas und Cwyd gingen zum Stall, um die Pferde zu satteln, und Aillas fragte: »Wenn ich Euch zu den Ländern befragte, in die ich zu reisen beabsichtige, wäret Ihr dann glücklich, wenn ich Euch aus Dankbarkeit ein Geschenk von mehreren Kupferpfennigen machte?«
Cwyd sann nach. »Unsere Gespräche haben eine Reihe interessanter Fragen aufgeworfen. Ich könnte Euch jede einzelne Biegung eines langen Pfades beschreiben, Euch jede einzelne der auf diesem Wege lauernden Gefahren und die Mittel, sie zu meiden, aufzählen und Euch so ein Dutzend Mal das Leben retten, und Ihr würdet mich dankbar mit einem Beutel Goldes belohnen. Wenn ich jedoch beiläufig erwähnte, daß der Mann, den ihr am Ende dieses Pfades zu sehen wünschtet, tot sei, würdet Ihr mir vielleicht danken, mir aber nichts geben. Ist hier nicht ein grundsätzliches Ungleichgewicht am Werk?«
»In der Tat«, stimmte Aillas ihm zu. »Das Paradoxon nistet einmal mehr in den Entstellungen, die dem Gefüge unseres Lebens durch die Gier zugefügt werden. Ich bin dafür, daß wir uns von diesem schändlichen Laster freimachen und vielmehr danach trachten, einander mit aufrichtigem und rückhaltlosem Eifer zu
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