Lyonesse 2 - Die grüne Perle
der Taverne zum
Tau und Anker
. Ein Falke stieß vom Himmel herab, ließ einen Weidenzweig auf den Tisch vor ihm fallen, und flog dann wieder davon.
Shimrods Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als er den Zweig anschaute. Aber da war nichts zu machen. Er erhob sich und suchte Aillas auf. »Murgen hat mich gerufen, und ich muß gehen.«
Aillas war nicht erfreut. »Wohin mußt du gehen und warum? Und wann kommst du zurück?«
»Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Wenn Murgen mich ruft, muß ich gehorchen.«
»Leb wohl, dann.«
Shimrod stopfte seine wenigen Habseligkeiten in einen Sack, zerrieb den Zweig zwischen den Fingern und rief: »Weide, Weide, bring mich nach dort, wo ich hingehen muß!«
Shimrod spürte sich von einem brausenden Wind gepackt, und der Boden unter ihm begann zu wirbeln. Gleich darauf erblickte er die bewaldeten Gipfel des Teach tac Teach, die sich in einer langen Kette von Norden nach Süden zogen; dann glitt er eine lange Luftrutsche hinunter und landete auf dem Deck neben dem Eingang von Murgens steinernem Haus Swer Smod.
Eine elf Fuß hohe schwarze Eisentür versperrte ihm den Weg. Auf ihrer mittleren Platte prangte ein eiserner Lebensbaum. Eiserne Eidechsen, die am Stamm klebten, ließen mit lautem feinen Zischen die eisernen Zungen hervorschnellen und huschten weiter nach oben; Eisenvögel hüpften von Zweig zu Zweig, spähten zuerst auf Shimrod herunter und schielten sodann gierig nach der eisernen Frucht, die niemand zu kosten wagte; dabei stießen sie vereinzelte leise Zwitscherlaute aus.
Shimrod sprach eine Formel, um den Sandestin, der die Tür bewachte, zu beschwichtigen: »Tür, öffne dich mir, und laß mich unbeschädigt passieren! Beachte nur meine wahren Wünsche, laß die boshaften Grillen meines dunklen Unter-Geistes außer acht.«
Die Tür wisperte: »Shimrod, der Weg ist frei, auch wenn du gar zu wählerisch in deinen Bedingungen bist.«
Shimrod enthielt sich einer Antwort und trat auf die Tür zu, die aufschwang und ihm Zutritt in eine Vorhalle gestattete, die von einer Glaskuppel aus grünen, goldgelben und karmesinroten Scheiben erhellt wurde.
Shimrod wählte einen der Gänge, die von der Vorhalle wegführten, und gelangte so in Murgens Privatsaal.
Murgen saß an einem wuchtigen Tisch, die Beine zum Feuer hin ausgestreckt. Heute präsentierte er sich in der Erscheinungsform, die er vor so langer Zeit Shimrod verliehen hatte: eine hochaufgeschossene hagere Gestalt mit einem scharf geschnittenen knochigen Gesicht, staubfarbenem Haupthaar, einem schrulligen Mund und einem leicht gespreizt wirkenden Gebaren.
Shimrod hielt jäh inne. »Mußt du mir als mein Selbst gegenübertreten? Es ist verwirrend, unter diesen Umständen belehrt oder – schlimmer noch – gescholten zu werden.«
»Ein Versehen«, sagte Murgen. »Normalerweise würde ich dir einen solchen Streich nicht spielen, doch nun, da ich darüber nachdenke: Die Übung, sich mit ungewohnten Gedanken aus deinem eigenen Munde zu befassen, könnte vielleicht von grundlegendem Wert sein.«
»Mit Verlaub, aber ich betrachte diesen Punkt als weit hergeholt.« Shimrod trat näher. »Je nun, wenn du dich nicht verwandeln willst, drehe ich dir eben den Rücken zu.«
Murgen machte eine abwinkende Handbewegung. »Es ist ohnehin einerlei. Möchtest du eine Erfrischung zu dir nehmen?« Er schnippte mit den Fingern, und Krüge und Met und Bier erschienen auf dem Tisch, zusammen mit einer Platte mit Brot und kaltem Fleisch.
Shimrod begnügte sich mit einem Humpen Bier, während Murgen es vorzog, Met aus einem hohen Zinnseidel zu trinken. »Haben die Priester im Tempel dich höflich behandelt?« frug Murgen.
»Du beziehst dich auf den Tempel der Atlante? Ich habe mich niemals bemüht, ihnen meine Aufwartung zu machen, noch haben sie mich je aufgesucht. Bringt die Bekanntschaft mit ihnen irgendeinen Gewinn?«
»Sie haben lange Traditionen, die sie vorzutragen bereit sind. Die Stufen, die von dem Tempel herabführen, sind eindrucksvoll und verdienen vielleicht einen Besuch. An einem ruhigen Tag, wenn die Sonne hoch steht, kann ein scharfes Auge durch das Wasser hinunterblicken und vierunddreißig Stufen zählen, bevor sie in der Dunkelheit verschwinden. Die Priester behaupten, daß die Anzahl der Stufen über der Wasseroberfläche stetig schwindet; entweder versinkt das Land, oder der Meeresspiegel hebt sich: solches sind ihre Schlußfolgerungen.«
Shimrod überlegte. »Beides ist schwer zu glauben. Ich habe
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