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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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vorerst.
    Zwei Wochen später kam die Orgel nach Ravenscraig. Sie war groß, sperrig und hatte viele bunte Knöpfe. Es war natürlich keine Wurlitzer, was aber nicht weiter schlimm war. Er setzte sich davor, schaltete sie ein und begann wahllos die Tasten zu drücken und dem Gerät Töne zu entlocken. Man konnte die Tremoli und die Klangfarben verändern, was nicht schlecht war. Danny experimentierte und fand schnell heraus, welche Akkorde und welche Harmonien seine Eltern wünschen ließen, ihm doch eine Gitarre gekauft zu haben.
    Wie Tyler Blake es einst besungen hatte.
    Be a rebel, don 't be dead.
    Leider fand Danny ziemlich schnell heraus, dass Helen Darcy sich wohlüberlegt für eine elektronische Orgel entschieden hatte. Sie konnte jederzeit frei entscheiden, ob und wie lange Danny in seinem Zimmer Musik machte. Spielte er etwas, was ihr nicht gefiel, schaltete sie einfach den Strom ab. Spielte er zu laut, stellte sie den Strom ab. Sollte er es auch nur wagen, etwas von Johnny Cash zu spielen - Get Rhythm und Folsom Prison Blues standen ganz oben auf der Liste -, dann schaltete sie den Strom ab.
    Ja, Helen Darcy liebte es, die Macht in Händen zu halten. Das war überhaupt das Allerwichtigste für sie.
    Und Danny?
    Er war sauer.
    Rebellisch sauer und sehr, sehr ruhig.
    Die Tage vergingen.
    Sand rann durchs Glas.
    Trotzig spielte er weiterhin Folk, auch wenn seine Mutter ihm den Strom abgeschaltet hatte. Er musste seine Fingerfertigkeit trainieren. Die linke Hand, die in der Regel die begleitenden Akkorde spielte, musste noch unabhängiger von der rechten Hand, die die mehrstimmigen Melodien produzierte, sein. Deswegen übte Danny Tag und Nacht und ließ sich auch nicht davon abhalten, wenn die Orgel mangels Strom keine richtigen Töne, sondern nur leises Geklapper produzierte. Es gab sogar Nächte, da spielte er im Dunkeln. Blind zu spielen war eine gute Übung für die Finger, die bald schon ihren Weg wie von allein fanden.
    Dann wurde er älter.
    Die Zeit sprang panthergleich durch die Gitter.
    Und als er vierzehn war, verliebte er sich zum ersten Mal. Es traf ihn einfach so, an einem Nachmittag im Frühsommer.
    In Portpatrick, der nächsten Ortschaft, die diesen Namen verdiente, gab es einen Secondhandladen namens The Spyglass, unten in den verwinkelten Gassen am Hafen, und dort sah Danny an besagtem Tag die Gitarre, die sein werden sollte. Es war eine alte Gibson, die auf der Stelle sein Herz eroberte.
    So fing es an.
    Fortan dachte er nur darüber nach, wie er in den Besitz der Gitarre gelangen konnte. Er schwänzte hin und wieder die Schule - das war zumindest ein Anfang - und fuhr mit dem Milchmann durch Portpatrick. Er stapelte die Dosen im Supermarkt, mähte fremder Leute Rasen, trug Zeitungen aus, kehrte die Straße, mistete Ställe aus. Hatte jemand eine Frage, dann zeigte er seinen in puncto Alter gefälschten Schülerausweis. Es funktionierte ganz gut.
    Irgendwann nach Ablauf des Sommers hatte er dann endlich das Geld für die Gibson zusammen.
    Er ging in den Laden, fühlte sich wie Bruce Springsteen in einem Video-Clip und kaufte sich seine erste Gitarre von seinem ersten selbst verdienten Geld. Im Laden roch es nach Staub und all dem Zeug, das irgendwer dort für ein paar Pfund abgegeben hatte.
    Und da war sie: seine Gibson.
    Sie war aus dunklem Holz gefertigt und sah wunderschön aus. Als er ihr zum ersten Mal eine Melodie entlockte, da fühlte er sich, als habe er gerade eine neue Welt betreten.
    Und jetzt, nach all den Jahren, besaß er genau diese Gitarre noch immer, und meist war es die alte Gibson, mit der er oben auf dem Leuchtturm saß. Ja, er liebte die Gibson, die mittlerweile voller Kratzer und tiefer Schrammen war, er liebte sie wie jemanden, den man sehr lange und gut kennt und der einen selbst auch sehr lange und gut kennt. Sie hatten einiges durchgemacht, gemeinsam. Natürlich besaß er eine Reihe besserer Gitarren, die er sich im Laufe der letzten Jahre zugelegt hatte und die er nicht mehr missen wollte. Auf den meisten Konzerten spielte er hauptsächlich auf einer schwarzen Fender Stratocaster, einer American Vintage '57, daneben benutzte er eine knallrote Rainsong, die einzige Akustik-E-Gitarre, die er mochte, und darüber hinaus stand immer noch eine elegante Martin Dreadnought irgendwo herum. Doch was es an Instrumenten auch geben mochte - keine Gitarre würde jemals seiner alten Gibson das Wasser reichen können.
    So viel war sicher.
    »Sie wird durchdrehen«, prophezeite ihm

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