Lyra: Roman
sammelte Feuerholz für den Abend, Sunny breitete eine Decke aus. Sie ließen sich darauf nieder, und die Zeit verging. Danny schaute Sunny beim Schlafen zu, und es war so ruhig überall um ihn herum, dass er das unbestimmte Gefühl hatte, zum ersten Mal im Leben sich selbst zu hören. Tausende von Gedanken bestürmten ihn in diesem Moment, aber keiner der Gedanken wollte lange verweilen. Sie waren zu leicht und zu beschwingt, um dies tun zu können. Er las Kerouac und markierte die Stellen in dem Buch, die sich wie Songtexte anhörten.
Als Sunny wach wurde, aßen sie Brot mit Schinken.
»Hast du gewusst«, fragte er sie, »dass Gott Pu der Bär ist?« Er küsste sie auf die Nasenspitze.
»Klar.« Selbst verschlafen konnte sie so lächeln, dass man sich einfach nur gut fühlte.
Sie tranken Wasser und Rotwein und rauchten Gras, redeten und ließen die Nacht hereinbrechen.
»Erzähl mir eine Geschichte«, bat sie ihn schließlich, als es schon dunkel war.
Danny sah sie lange an. »Warum?«
»Weil ich deine Stimme mag, wenn sie mir etwas erzählt.« Sie sah ihn an wie der Himmel, der bei Tag im klaren Wasser des Creek schwamm.
Danny überlegte kurz. Die Gedanken, die er vorher nicht hatte fassen können, hielten innc.
»Du möchtest also eine Geschichte hören.«
»Ja.«
»Eine aus der Gegend?«
»Vielleicht.« Sie betrachtete ihn erwartungsvoll.
»Okay.« Er nahm erneut einen Schluck Rotwein. Dann begann er: »Es ist eine sehr alte Geschichte, musst du wissen. Sie hat sich vor langer Zeit zugetragen, aber die Menschen erzählen sie sich immer noch.«
»So ist das wohl.«
»Man erzählt sich«, fuhr Danny fort, »dass sich einmal ein junger Mann in den Wäldern verirrt hatte.«
»In diesen Wäldern hier?«
Er nickte. »In genau diesen Wäldern.«
Es war die Zeit der großen Depression. Auf der Suche nach Arbeit fuhren die Männer in Güterzügen durch das Land. Sie kletterten in die Waggons, wenn die Kontrolleure und die Schaffner unachtsam waren. Oder sie warteten dort, wo die Züge eine Anhöhe erklimmen mussten und langsamer fuhren. Dann sprangen sie auf und verbargen sich in den Waggons. Oftmals saßen mehrere von ihnen in den Waggons, sahen draußen die Landschaft vorbeiziehen, unberührte Gegenden, die sonst kaum ein Mensch zu sehen bekam, und sie träumten ihre staubigen Träume von einem besseren Leben, in dem sie einer geregelten Arbeit nachgehen konnten und für ihre Familie sorgen durften.
»Einige von ihnen aber genossen dieses rastlose Leben.«
Sie liebten es, auf die Züge aufzuspringen, den Wind im Gesicht zu spüren und mit dem Rattern der Züge und dem Schaukeln der Waggons einzuschlafen. Sie waren auf der Suche, aber sie wussten nicht, wonach sie suchten. Sie waren Rastlose, Landstreicher, Hobos, für die der Weg das Ziel war. Sie wollten nie wirklich ankommen, wenngleich sie vorgaben, genau davon zu träumen.
»Mike Driscoll«, erklärte Danny, »war einer von ihnen.«
Er war aus Irland nach Amerika gekommen und in New York gestrandet. Er hatte bei den Docks in Brooklyn gearbeitet, doch dann trieb es ihn westwärts. Er sprang auf einen Zug nach dem anderen auf, war wie ein Blatt, das der Wind vor sich her wehte. Er nahm Gelegenheitsarbeiten in Pittsburgh, Detroit und Chicago an. Er lebte von der Hand in den Mund, wie alle anderen auch.
»Bis er etwas tat, was sein Leben ändern sollte.«
Sunny lauschte gespannt mit angewinkelten Beinen, auf denen ihr Kopf ruhte.
»Eines Nachts stieg er in einen Waggon, in dem er ganz allein war.«
Draußen glitt die Nacht vorbei, Orte mit Namen wie Baraboo, Eau Ciaire und Rice Lake, wie St. Clouds und Grand Rapids tauchten aus der schweigsamen Dunkelheit auf wie verwunschene Reiche, die voller Lichter waren und wieder in der rauchigen Vergangenheit verschwanden, bevor Mike auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden konnte, dort auszusteigen.
»Du musst wissen«, erklärte Danny, »dass Mike Driscoll einen Traum hatte, der zu ihm kam, seit er in Amerika lebte.«
»Klingt spannend.«
»Er träumte von einer wunderschönen Frau mit einer Stimme, die Lieder für ihn sang.«
Er wusste, dass es die Suche nach dieser Frau war, die ihn antrieb, die ihn rastlos umherreisen ließ. Im Traum war es immer ihre Stimme, die ihn betörte, und die Frau war schön, weil ihre Stimme wie ein Wunderwerk aus allem Schönen war, was er jemals in den Liedern, die sein Leben begleitet hatten, gehört hatte. Sie lachte, und dieses Lachen war wie Musik, zu
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