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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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der er tanzen musste, und wie Licht, das ihn im Dunkeln sehen ließ. Er träumte, dass er ihr Gesicht inmitten einer Wolke aus Glühwürmchen erblickte, leuchtenden Wesen, die wie Sterne die Nacht mit winzig feinen Punkten bedeckten.
    »Doch dann«, sagte Danny, und seine Stimme wurde dunkler, »dann holte ihn das Pech ein.«
    Der Zug fuhr durch dichte Wälder, als ein Kontrolleur die Waggons einzeln abschritt und Mike entdeckte. Bisher war es ihm immer gut gelungen, sich vor den Kontrolleuren zu verbergen, doch war ihm bewusst, dass die Eisenbahner nie zimperlich waren, wenn sie Hobos in ihren Zügen erwischten. Jeder Hobo kannte eine Geschichte, die böse endete. Jeder Hobo kannte jemanden, den es erwischt hatte.
    »Wie dem auch sei, Mike hatte geschlafen.«
    Er hatte von der wunderschönen Frau mit der singenden Stimme geträumt, als schwere Stiefel ihn in den Bauch traten. Er riss die Augen auf und stöhnte vor Schmerzen, die überall in seinem Bewusstsein explodierten. Ein Kontrolleur in einer blauen Uniform zerrte ihn auf die Beine. Er beschimpfte ihn, schlug ihm mit der Faust hart ins Gesicht und in den Magen. Mike hörte benommen, wie die Schiebetür des Waggons aufgerissen wurde. Er spürte den kalten Nachtwind, der nach ihm griff.
    »Dann fiel er.«
    Er hörte das hämische Gelächter des Kontrolleurs hinter sich verwehen und fiel bodenlos in Nacht und Nichts. Jegliche Orientierung hatte er verloren. Steine bremsten seinen Fall. Er schlug hart auf, schnappte nach Luft, schluckte Staub und Dreck, schürfte sich die Haut blutig, fiel weiter, rollte einen Abhang hinunter. Da waren knorrige Äste und spitze Steine. Die Erde roch feucht wie in einem Grab, und es war ihm nicht möglich, den Fall zu bremsen. Die Welt war eine einzige Nacht, die ihn herumwirbelte. Er verfing sich in einer riesigen Dornenhecke, die nichts war als ein einziger unsichtbarer Schmerz in der hungrigen Finsternis. Etwas stach ihm in die Augen, und er spürte das Blut, das ihm über die Wangen rann.
    Sunny verzog das Gesicht. »Keine schöne Geschichte.«
    »Sie ist noch nicht vorbei«, hielt Danny ihr entgegen.
    »Okay.«
    Er fuhr fort: »Mike blieb irgendwann reglos am Boden liegen.«
    Die Schmerzen in seinem Kopf waren ohrenbetäubend, und die Erschöpfung übermannte ihn mit bitterem, traumlosem Schlaf, der rostrot und dumpf war wie die Wunden, die seinen Körper überall bedeckten.
    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Als es warm wurde, war ihm noch immer wie Nacht zumute.
    Er spürte die Sonne auf seinem Gesicht, aber er konnte nichts sehen. Da war nur ein heller Fleck.
    »Und er wusste, dass er erblindet war.«
    »Oh, Danny!«
    Er verteidigte sich. »Ich erzähle die Geschichte, wie sie passiert ist.«
    »Schon gut.«
    Danny lauschte in den Wald hinein, betrachtete Sunny. »Die Dornen hatten ihm die Augen zerstochen.«
    Doch tot war Mike Driscoll nicht. Noch nicht.
    »Er bekam es mit der Angst zu tun.«
    Er wusste nicht, wo er sich befand. Vom Zug aus hatte er nur dichte Wälder gesehen. Er wusste, dass zwischen Grand Rapids und Crookston nur Wildnis war, so weit das Auge reichte. Und er hatte Geschichten gehört. Es gab Grauwölfe und Schwarzbären und noch viele andere Gefahren. Die Hobos in den Zügen erzählten sich andauernd Geschichten von Reisenden, die in der Wildnis aus den Waggons geworfen wurden und ihr Schicksal in diesen kaum bewohnten Landstrichen fanden, wo irgendwann vielleicht irgendjemand über ihre Knochen stolpern würde. Alle diese Geschichten endeten immer gleich: Niemals wieder hörte irgendwer etwas von den armen Seelen, die das übellaunige Schicksal gleichermaßen aus dem Zug und dem Leben geworfen hatte.
    »Mike war verzweifelt.«
    Blind torkelte er vorwärts, still der Hoffnung nachhängend, dass er auf eine Siedlung stoßen würde.
    »Doch stattdessen stürzte er ein weiteres Mal.«
    Ein Fluss ling seinen Sturz auf und zerrte ihn in die Tiefe.
    »Der Creek«, sagte Danny, aber er sprach es aus wie Crick.
    Die kalten Fluten waren überall, sie packten ihn und nahmen ihm die Luft. Das Rauschen, das ihn umgab, war laut und boshaft und wild, und er konnte nichts anderes tun, als hilflos mit den Armen zu rudern. Steine schlugen ihm ins Gesicht, die Gischt nahm ihm den Atem.
    »Doch dann«, sagte Danny, »gcschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte.«
    Sunny setzte sich gerade hin und hörte aufmerksam zu.
    »Etwas packte ihn und zerrte ihn ans Ufer.« Danny deutete auf den Fluss. »Dort drüben

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