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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Wochen bestimmt hatte, brauchten sie beide Ruhe. All die Stunden im Tonstudio, das immer wieder neue Abmischen der Titel, bis nach all den Takes endlich ein Song fertig war. Die Pressetermine, der Vertragskram, all die wilden Dinge, die einen überrennen konnten, wenn man nicht darauf vorbereitet war.
    Sunny und er waren der Route 2 Richtung Crookston gefolgt, um fünfzig Meilen hinter Grand Rapids in die Wälder abzubiegen. Immer urwüchsiger wurde die Gegend. Hohe Bäume säumten die Straße, schmale Schatten reckten sich über den Asphalt.
    Sie ließen den Wagen schließlich auf einem Parkplatz am Waldrand stehen und gingen zu Fuß weiter.
    Es war ein schöner Frühsommertag. In den Wäldern war es wärmer als am Lake Superior, wo man immer das Gefühl hatte, direkt am Meer zu leben.
    Sie gingen einen kaum ausgetretenen Pfad entlang, und die Wipfel der Bäume wiegten sich sanft im lauwarmen Wind. Die Stille hier war urtümlich und wie ein leises Versprechen, das noch keinem über die Lippen gekommen war. Die weiten Nadelwalder mit duftenden Pinien und Fichten waren durchwoben von Birken und Pappeln. Hin und wieder huschten flinke Fichtenmarder durchs Unterholz, es raschelte überall.
    Sunny trug enge, abgeschnittene Bluejeans und eine Bluse mit Karomuster. Ihr blondes Haar hatte sie zu zwei Zöpfen gebunden, die unter dem Schlapphut, den sie auf dem Rücksitz des Pick-ups gefunden hatte, herauslugten.
    Danny konnte nicht damit aulhören, sie einfach nur anzuschauen.
    In den Wochen, die hinter ihnen lagen, war er immer tiefer in Sunnys Leben eingetaucht.
    Ihrem Vater, das hatte er erfahren, war sie nie begegnet, sie hatte nur einige alte Bilder von ihm gesehen. Er war eines Abends nach draußen gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Das war alles. Sunny war nicht mal ein Jahr alt gewesen.
    »Er wollte Zigaretten holen«, hatte sie sich an die Geschichten erinnert, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, »mehr gibt es da nicht zu sagen. Die klassische Story. Er war einfach weg.« Nachdenklich hatte sie nach einer Weile hinzugefügt: »Er führt womöglich ein anderes Leben, irgendwo, mit einem Haus und einer Familie, die einfach nichts von Superior und seinem alten Leben weiß.«
    Sunny war in Superior aufgewachsen, in einem kleinen Haus am Stadtrand, wo die Züge zur Küste vorbeikamen. Sie kannte fast jeden Schienenstrang in Duluth, der Stadt der unendlichen Bahngleise, und konnte die Güterzüge anhand ihrer Geräusche auseinanderhalten.
    »Das können alle, die hier aufgewachsen sind«, pflegte sie zu sagen.
    Nach der Highschool war sie dann nach Chicago gegangen, um Kunst zu studieren, moderne Malerei, doch hatte ihr Herz schon immer der Musik gehört.
    »Die erste Geige«, hatte sie ihm anvertraut, »habe ich von meiner Tante bekommen. Sie hat mir immer eine Geschichte erzählt, echt verrückt. Sie sei durch Illinois gefahren, und dort habe sie die Geige gepflückt.«
    »Gepflückt?« Womöglich waren die Darcys nicht die einzige Familie, in der man sich seltsame Geschichten erzählte.
    »Ja.« Sunny hatte lachen müssen. »Die Geige sei dort an einem mächtigen Ahorn mit roten Blättern gewachsen. Und Tante Eusebia habe sie nur pflücken müssen.«
    So viel zur Geschichte der Geige. Tatsache war jedenfalls, dass Sunny auf der Geige alles spielen konnte.
    »Das Malen konnte ich dennoch nicht aufgeben.«
    Schon damals hatte sie Danny einige ihrer Bilder gezeigt. Sie waren bunt, ja, immer sehr bunt, ein Gemisch aus warmen Farben und Formen, die einen an ferne Sommer denken ließen. In den Pinselstrichen konnte man das Leben im Norden erkennen, in dem Grün spiegelten sich die Hügel, und die Blautöne wurden meist grau wie die Fluten, die draußen gegen die hohen Klippen von Duluth schlugen.
    »Ein paar davon habe ich sogar schon verkaufen können. Hat mich zumindest die Miete zahlen lassen. Was will man mehr?!«
    »My Girl from the North Country«, so hatte Danny sie manchmal genannt.
    Nach einer Stunde Fußmarsch erreichten sie den Fluss, der einige Meilen weiter nördlich in den Red Lake mündete. Hier in den Wäldern, eingebettet in Steine und hohes Gras, war er ein ruhiger Strom, der nur nach Regenfällen zu einem wilden Ungetüm werden konnte.
    »Red Lake Creek.« Danny atmete durch.
    Fliegen surrten in der Luft, Bienen schwebten wie Versprechen in der Sonne.
    »Hier sagen sie Crick«, erklärte ihm Sunny.
    »Dann also Red Lake Crick.«
    Sie stellten ihre Rucksäcke ab und schlugen das kleine Zelt auf. Danny

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