M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
verletzt an einem unverdächtigen Ort ablegen. Wieso die Schule?, fragte sich Edith Liebergesell ununterbrochen. Wieso der Stadtteil Hasenbergl? Oder basierte die ganze Aktion auf reiner Willkür? War Leo zur falschen Zeit am falschen Ort? Ging der Gewalt ein Wortwechsel voraus, der schließlich eskalierte? »Garantiert nicht«, sagte sie.
»Bitte?«, sagte Patrizia.
»Bitte?« Edith Liebergesell hatte aus Versehen gesprochen. »Die Täter wussten genau Bescheid, Leo hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, sein Handy einzuschalten.« Ihr war bewusst, dass sie den Satz im Lauf der vergangenen Stunden schon mehrmals gesagt hatte. Immer wieder musste sie an den in jüngster Zeit leicht gebeugt gehenden Mann denken, den sie schon so lange kannte und der noch ihren Sohn bedient und ihm oft einen Lutscher oder einen Schreibblock geschenkt hatte.
Erschreckend deutlich sah sie den selbsternannten »grauesten Schattenschleicher der Stadt« vor sich, sein hageres Gesicht, seinen schmächtigen Körper, die alte Hornbrille, die graue Windjacke. Bei der Beschattung von Mia Bischof, fiel ihr ein, hatte er Kontaktlinsen getragen, aus welchen Gründen auch immer.
Sie bemerkte, dass Patrizia sie unentwegt ansah. »Darf ich dich was fragen?« Unbeholfen sortierte die junge Frau die Seiten zweier Akten, ließ sie auf den Tisch fallen und schlug für einen Moment die Hände vors Gesicht. »Müssen wir nicht jemanden benachrichtigen? Einen Angehörigen von Leo?«
»Er hat niemanden mehr.«
»Auch keinen Freund?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wieso weißt du das nicht?«
Mit einer eckigen Bewegung stand Edith Liebergesell auf, packte Zigarettenschachtel und Feuerzeug, knipste die grüne Lampe aus, nahm ihre Handtasche, die am Boden stand. »Wir fahren hin.«
Eine Viertelstunde später stiegen sie in der Preysingstraße in Haidhausen aus dem Taxi. Edith hatte einen Schlüssel in der Hand, mit der sie sowohl die Haustür als auch die Wohnung im dritten Stock aufsperrte. Während der Taxifahrt hatten die Frauen kein Wort gewechselt.
In der namenlosen Wohnung hing der Geruch nach ungelüfteten Zimmern und abgestandenem Rauch. Die beiden Frauen schnupperten und dachten das Gleiche. Sie konnten sich an kein einziges Mal erinnern, dass Leonhard Kreutzer in ihrer Gegenwart geraucht hätte.
»In Schwabing, in der Ainmillerstraße, waren wir lange Zeit Nachbarn«, sagte Edith Liebergesell. »Zu Lebzeiten meines Sohnes. Nach dem Tod seiner Frau ist Leo hierhergezogen. Er hat mir einen Zweitschlüssel gegeben, für wenn mal was ist, wie er sich ausdrückte. Ich war seit mindestens zwei Jahren nicht mehr hier. Ich komm mir wie ein Einbrecher vor.«
Patrizia wartete, dass ihre Chefin ein Fenster öffnete, sie selbst traute sich nicht. Die Wohnung war ein Altbau mit hohen Wänden und Stuck an der Decke. Die drei Zimmer waren vollgestellt mit dunklen, einfachen Möbeln, das Bad hatte eine runde Wanne und über dem Waschbecken einen verzierten, von einer Lichterkette eingerahmten Spiegel. Die Küche mit dem kleinen Balkon ging zum Hinterhof.
Edith Liebergesell öffnete die Balkontür und verharrte, die Hand auf der Klinke. An jenem Sonntag vor zehn Jahren, als sie aus dem Gerichtsmedizinischen Institut ins leere Weltall ihrer Straße zurückgekehrt war, hatte Kreutzer vor der Haustür in der Ainmillerstraße auf sie gewartet. Sie hatte ihn später nie gefragt, wie lange er schon dagestanden hatte, in der Kälte, allein. Bestimmt, dachte Edith jetzt, hatte Inge, seine Frau, ihn gerügt, weil er bloß eine Windjacke trug. Wie ein Schutzmann in Zivil, der eine bedeutende Aufgabe erfüllte. Schon vom Wagen der Hauptkommissarin aus sah sie ihn auf dem Bürgersteig stehen, nicht vor, sondern neben der Tür, als wolle er niemandem den Weg versperren. Sie stieg aus, die Kommissarin hielt ihr die Tür auf, und ging so entschlossen auf Kreutzer zu wie jemand, der damit gerechnet hatte, erwartet zu werden. Einen halben Schritt vor ihm blieb sie stehen. Sie sahen sich an, dann kippte ihr Oberkörper nach vorn, er schlang die Arme um sie, und sie zog ihn zu sich her. Er musste einen Schritt machen und stolperte fast über seine eigenen Füße.
Noch heute roch sie sein Rasierwasser. Auch Robert, ihr Mann, war aus dem Polizeifahrzeug gestiegen. Doch um ihn kümmerte sie sich nicht, sie hatte ihn vorübergehend vergessen. Da war niemand für sie außer dem schmächtigen Schreibwarenhändler Leonhard Kreutzer in seiner dünnen Windjacke, der ihrem Sohn erst
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