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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Gelb. Zwei Jungen trugen weiße Gewänder, einer von ihnen schwenkte ein Weihrauchfass. Der Geruch brannte ihm in der Nase und ekelte ihn. Das passierte sonst nie, wenn er selbst als Ministrant eingeteilt war. Während der Pfarrer redete und mit ausholenden Gesten den Sarg segnete, legte er, von einem unbändigen Wunsch getrieben, den Kopf in den Nacken, schaute in den wolkenlosen blauen Himmel hinauf und schloss die Augen.
    Vielleicht stand er minutenlang reglos da; für die Zeit hatte er kein Empfinden mehr. Erst als er eine Berührung am Arm spürte und im ersten Moment glaubte, seine Mutter würde ihn wecken, wie manchmal in der Früh, öffnete er die Augen und wandte den Kopf.
    Rechts neben ihm stand sein Vater und weinte. Da bemerkte er, wie die vier Männer in den schwarzen Anzügen den Sarg an zwei Riemen in die Erde gleiten ließen, behutsam, ohne zu zögern. Da unten verschwindet jetzt meine Mama, dachte er. Dann hörte er eine Stimme, die er zunächst nicht erkannte, weil er nicht begriff, wo sie herkam und warum sie so leise klang. »Gott ist die Finsternis«, flüsterte die Stimme. »Und er sieht uns nicht.«
    Bei diesen Worten erschrak er noch mehr als beim Anblick des in die Erde tauchenden Sarges. Während seine Gedanken sich noch überschlugen, griff sein Vater nach seiner Hand und nickte, als befeuere er den Satz, den er gerade gesagt hatte. Gott ist die Finsternis, dachte der dreizehnjährige Tabor Süden, weil er, seit er Religionsunterricht hatte und als Messdiener an Gottesdiensten mitwirkte, das Gegenteil gelernt hatte und auch davon überzeugt war. Was sein Vater sagte, konnte nicht stimmen. Doch dass er bei Mutters Beerdigung lügen würde, konnte er sich nicht vorstellen. Was also meinte sein Vater damit?
    Und warum schien die Sonne so groß? Der blaue Himmel, dachte er, war doch wie ein einziges, Obacht gebendes Auge. Im Kirchturm läuteten die Glocken und hörten nicht auf. Die Gesichter um ihn herum waren unsichtbar geworden, genau wie er selbst.
    Er wachte auf, augenblicklich erleichtert. Im selben Moment – oder schon eine Weile – klingelte sein Handy. Er dachte, er hätte verschlafen, dabei lag er erst seit vierzig Minuten auf der Couch.
    Die Stimme der Frau am anderen Ende klang so fremd wie die seines Vaters im Traum.

    »Frau Weisflog ist hier.«
    »Bitte?«
    »Frau Weisflog aus Ramersdorf.«
    Süden stützte sich am runden Wohnzimmertisch ab, Echos der Beerdigung im Kopf.
    »Hören Sie mir zu?«
    »Unbedingt«, sagte er.
    »Sie haben gesagt, ich soll anrufen, wenn mir was einfällt.«
    »Sie sind die Nachbarin von Herrn Denning.«
    »Ja, natürlich«, sagte die einundsiebzigjährige Rosa Weisflog.
    »Ihnen ist etwas eingefallen.«
    »Nein.« Während sie eine Pause machte, wischte Süden sich übers Gesicht. Er öffnete die Balkontür und trat nach draußen. Der Wind war kalt, das Licht grau. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. »Mir ist nichts eingefallen«, sagte die alte Frau. »Aber ich hab was gehört.«
    Süden sollte etwas erwidern, aber er schwieg. Er war immer noch nicht in der Gegenwart.
    »Sie sind doch Herr Süden, oder hab ich mich verwählt?«
    »Sie haben sich nicht verwählt. Ich war wegen Herrn Denning bei Ihnen in der Wilramstraße.«
    »Und wieso sagen Sie nichts?«
    »Ich höre Ihnen zu.«
    »Das will ich hoffen, wenn ich Sie schon extra anrufe.«
    »Sie haben etwas gehört, Frau Weisflog.«
    »Schritte und ein Schlüsselgeräusch. Wir haben einen Einbrecher im Haus.«
    »Einen Einbrecher mit Schlüssel«, sagte Süden.
    »Sie hören mir nicht richtig zu, der Einbrecher ist in der Wohnung von Herrn Denning. Und Herr Denning ist nicht da, wie Sie wissen.«
    »Könnte er zurückgekommen sein?«
    »Nein.«
    »Da sind Sie sich sicher.«
    »Ja.«
    Nach einem beiderseitigen Schweigen sagte Süden: »Sie haben den Mann gesehen.«
    »Guter Detektiv. Ich hab ein komisches Geräusch an der Haustür gehört und durchs Guckloch geschaut. Da kam ein Mann rein, der nicht hier wohnt, der mich aber schon mal vor der Tür nach Herrn Denning gefragt hat. Das habe ich Ihnen doch erzählt. Und der hat jetzt die Haustür aufgebrochen. Mit einem Schlüssel.«
    »Und dann, Frau Weisflog?«
    »Dann ist er nach oben gegangen und in die Wohnung vom Herrn Denning eingebrochen. Mit demselben Schlüssel. Wie geht so was?«
    »Mit einem Dietrich«, sagte Süden.
    »Natürlich! Soll ich die Polizei rufen?«
    »Nein. Ich danke Ihnen, dass Sie mich angerufen haben. Wir machen jetzt

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