M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
kürzlich eine Packung Buntstifte und einen unlinierten Block geschenkt hatte. Wie lange er sie festhielt und ob sie etwas zu ihm gesagt hatte, wusste sie hinterher nicht mehr. In ihrer Wohnung setzte sie sich auf die Couch und hielt die linke Hand vor Mund und Nase. Ihre Haut roch nach Rasierwasser, auf ihrem Rücken spürte sie die Abdrücke seiner Umarmung. Immer wieder dachte sie daran, dass er einfach dagestanden hatte, ohne eine Vorstellung, wann sie überhaupt zurückkehren würde. Im Lauf der folgenden Monate hatten sie sich wieder ab und zu umarmt, kürzer als beim ersten Mal, auch vor den Augen von Inge. Jedes Mal verließ Edith Liebergesell den Laden mit einem inneren Umhang aus Geborgenheit. Eines Tages beließen sie es bei einem Blick.
In seiner Nähe, dachte Edith Liebergesell und ließ die Klinke der Balkontür los und drehte sich zu Patrizia um, war das Weltall bewohnt gewesen. In diesem Moment erschien ihr Kreutzers Wohnung wie ein von einem entmenschten Gott verfluchter Planet.
»Danke, dass du keine Fragen stellst«, sagte sie. »Wir nehmen ein paar Sachen mit und gehen wieder. Unterwäsche, ein Hemd, eine Hose, Waschzeug.«
Patrizia stellte keine Fragen, weil sie an all die Dinge dachte, die sie tun müsste, um wieder halbwegs klar denken zu können: dem Leiter der Mordkommission eine Plastiktüte voller sorgfältig produzierter Scheiße vor die Bürotür legen; diesen LKA-Mann, von dem Süden berichtet hatte, vor seiner Behörde abpassen und wegen schlechter Sichtverhältnisse aus Versehen mit dem Fahrrad umhauen; in der Kneipe »Bergstüberl« Feuer legen und von außen die Türen verrammeln, damit alle, die drin waren, in der Hölle brutzelten.
Für Patrizia stand fest, dass ihr erster Eindruck sie nicht getäuscht und sie die Frau, die angeblich ihren Geliebten suchen lassen wollte, richtig eingeschätzt hatte – als verschlagene, bösartige Lügnerin. Was deren wirkliches Ziel war, wusste sie noch nicht, aber sie würde es mit allen legalen oder illegalen Mitteln herausfinden. Kein Mensch, schon gar nicht ein Kripomensch, konnte ihr einreden, der Überfall auf Leo habe nichts mit dem Auftauchen von Mia Bischof zu tun und dieses wiederum nichts mit dem verlogenen Verhalten der Polizei.
Was immer Leo entdeckt haben mochte, dachte Patrizia und hielt die Reisetasche auf, in die ihre Chefin Unterhosen, Hemden und Socken legte, welchen Fehler auch immer er bei seinen Ermittlungen in Neuhausen begangen haben mochte – von jetzt an war das Versteckspiel zu Ende. Niemand würde die Detektei Liebergesell je wieder unterschätzen. Ganz gleich, was Süden oder Edith dachten, sie, Patrizia, würde sich nicht länger für blöd verkaufen lassen. Sie hatten alle drei die Pflicht, Leo zu rächen und wieder ins Leben zurückzuholen. »Ich geh da hin«, sagte sie, als Edith Liebergesell die Schranktür schloss und den Reißverschluss der Tasche zuzog. »Und du wirst mich nicht dran hindern.«
»Du gehst nirgendwo hin.«
»Ich geh da hin«, wiederholte Patrizia. »Ich geh denselben Weg wie Leo, und dann wirst du schauen, was passiert.«
»Zuerst reden wir mit Süden über alles.«
»Er ist ein Ex-Bulle, er deckt seine eigenen Leute, begreifst du das nicht?«
»Nein.« Edith Liebergesell stellte die Tasche ab und holte ihr Handy aus der Manteltasche. »Du benimmst dich unprofessionell und kindisch. Reiß dich zusammen. Wir starten keinen Rachefeldzug, wir benutzen unseren Kopf.«
»Ich hab meinen Kopf schon benutzt. Ich werde nicht länger rumsitzen und so tun, als könnte ich damit was bewirken. Ich geh in diese Kneipe und krieg alles raus, was ich will.«
»Du wirst gar nichts rauskriegen.« Edith Liebergesell tippte eine Telefonnummer.
»Bist du damals auch bloß rumgesessen und hast deinen Kopf benutzt, als dein Sohn entführt und umgebracht worden ist?«
Edith Liebergesell hörte auf zu tippen. Sie senkte den Arm, sah ihr Gegenüber aus schattenvollen Augen an. Nach einem Duell aus Schweigen sagte sie: »Ja. Aber ich hatte niemanden, mit dem ich meine schwarzen Gedanken hätte austauschen können. Ich wollte rausgehen und meine Nachbarn ermorden, weil sie nichts gehört und gesehen hatten. Weil unter ihren Augen ein Verbrechen geschehen war und sie es nicht verhindert hatten. Ich wollte die Polizistin aus dem Fenster werfen. Und meinen Mann hinterher, der bei der Lösegeldübergabe irgendwas falsch gemacht haben musste. Ich hielt ihn für den größten Versager der Welt. Ich saß auf der
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