M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
sollte.
Sie war Mia Bischof gefolgt, nachdem diese mit einem schwarzen Rucksack das Zeitungsgebäude in der Augustenstraße verlassen hatte. Unbemerkt blieb sie in ihrer Nähe, als Mia in die U-Bahn zum Hauptbahnhof stieg und dort in die S-Bahn Richtung Tutzing. In Starnberg stieg Mia aus und machte sich – scheinbar ohne das Geringste von ihrer Umwelt wahrzunehmen – auf den direkten Weg zum wenige Minuten entfernt gelegenen Hofhotel Geiger am See. Dort verschwand sie in einem Seiteneingang. Da Patrizia Roos im Umkreis des Hotels keine Telefonzelle fand, ging sie zurück zum Bahnhof und rief von dort aus ihre Chefin an. Dann korrigierte sie ein wenig den Sitz ihrer schwarzen Perücke, putzte die Gläser ihrer Fensterglasbrille mit einem Papiertaschentuch und schlenderte erneut zum Hotel.
In der Bar bestellte sie einen grünen Veltliner, ein großes Glas Mineralwasser und einen Schinken-Käse-Toast. Eine Stunde lang blieb sie der einzige Gast, dann kamen fünf Männer in dunkler Kleidung herein, von denen sich vier an einen Tisch am Fenster setzten und einer an die Theke. Sein erstes Bier trank er in wenigen Schlucken aus, und der Barkeeper brachte ihm unaufgefordert ein frisches. Mia Bischof war nicht wieder aufgetaucht. Wenn sie von der Toilette zurück war, wollte Patrizia eine Entscheidung treffen.
Sie wunderte sich, warum Edith Liebergesell sich noch nicht gemeldet hatte, da packte der Mann sie am Arm. »Was machen Sie in dem Hotel?«, sagte er mit heiserer Stimme.
»Lassen Sie mich los. Was soll das?« Sie griff nach seiner Hand, aber er presste sie so schnell und rabiat gegen die Wand, dass sie ihn wieder losließ. Er zerrte an ihren Haaren. Sie versuchte, ihn wegzustoßen und nach ihm zu treten. Im nächsten Moment hielt er ihre Perücke in der Hand. Nach einem kurzen Zögern schlug er ihr mit solcher Wucht ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte. Ihre Brille zerbrach auf den Marmorfliesen.
»Das wird jetzt ungemütlich für dich«, sagte der schmächtige Mann, der nicht so aussah, als könnte er derart gewalttätig werden. Patrizia liefen Tränen über die Wangen und sie hatte Todesangst.
Im Hofhotel Geiger hatte eine Mitarbeiterin am Telefon erklärt, bis Montag seien sämtliche Zimmer ausgebucht. So mietete Edith Liebergesell sich in der Pension Riemann ein, einige hundert Meter vom Hotel entfernt. Auf diese Weise musste sie wenigstens keinen falschen Namen benutzen. Auch wenn sie aufgrund der bisherigen Recherchen nicht davon ausging, dass Mia Bischof ihrem Vater inzwischen von dem Suchauftrag erzählt hatte, hätte sie bei einer Hotelbuchung auf jeden Fall den Namen ihres Ex-Mannes, Schultheis, angegeben. Womöglich warf Mia nebenbei einen Blick ins Gästebuch, zumal sie nach den Ereignissen der letzten Tage mit Aktionen der Detektei auch im Zusammenhang mit ihrer Person rechnen musste.
Ein wenig wunderte sich Edith Liebergesell, dass Patrizia ihr noch keine Nachricht geschickt hatte. Vermutlich war ihre Kollegin noch immer im Hotel auf Posten.
Was sie trotz der angespannten Situation und des seit Tagen in ihr schwelenden Gefühls einer dumpfen Bedrohung in ihrem Tun weiter bestärkte, war, dass der alte Leo zumindest wieder ansprechbar war und in absehbarer Zeit seine Sprache zurückfinden würde. Mit seiner Hilfe würden sie einen entscheidenden Schritt vorankommen, dachte sie, als sie die Bar des Hofhotels Geiger am See betrat.
Zwei Männer eilten an ihr vorbei. In der Bar saß kein weiterer Gast. Auf dem Tresen standen ein halbvolles Weinglas, ein leeres Glas Mineralwasser und ein leeres Bierglas. Der Barkeeper begrüßte sie mit einem freundlichen »Grüß Gott, die Dame«. Sie setzte sich an einen Zweiertisch und fühlte sich augenblicklich belauert.
Dies war der erste Fall in seinem Leben als Vermisstenfahnder, bei dem er kein einziges Foto des Verschwundenen besaß. Erschöpft nach dem weiten Weg von Neuhausen nach Giesing, für den er fast zwei Stunden gebraucht hatte, hockte Süden auf dem Boden seines dunklen Zimmers. Weder in der Wohnung des vermeintlichen Taxifahrers noch in Mias braunem Apartment gab es wenigstens einen Schnappschuss von Siegfried Denning. Sie suchten nach einem Unsichtbaren in Verkleidung.
Die Balkontür stand offen, die Sträucher im Hof knisterten vom Regen, der nachließ, aber nicht aufhörte. Wenn Patrizia und Edith aus Starnberg zurück wären, dachte Süden, würden sie ihre Ergebnisse austauschen und bewerten, und zwar in Gegenwart von Kreutzer,
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