M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
unternommen. Jede Person, mit der sie verkehrte, hätte sich in diesem Zimmer heimisch gefühlt.
Von der Sekunde an, als er von Kreutzers Unglück erfuhr – Süden verließ das Zimmer so unbemerkt, wie er es betreten hatte –, bewegte er sich in einem Gehege ohne Nächstenliebe. Und dieses Gehege, dachte er, war keine neue, eigene Welt, es war Teil der Welt, in der auch er seinen Schatten warf. Er musste endlich aufhören, sich zu wundern und zu fürchten. Solche Empfindungen blendeten ihn bloß.
Dann, auf der Straße mit seinem aufgespannten Schirm, dachte er wieder an Leonhard Kreutzer und daran, dass der alte Detektiv die Täter beschreiben und entscheidende Aussagen machen würde, ganz gleich, wann. Süden überlegte, Edith Liebergesell anzurufen. Aber er wollte sie nicht aufscheuchen.
Um bei seinen Gedanken an die Wohnung, aus der er kam, nicht zu ersticken, machte er sich trotz des unablässig fallenden Regens zu Fuß auf den mindestens eine Stunde dauernden Heimweg.
Manchmal sah er sie im Traum, manchmal im wachen Zustand. Er konnte es nicht unterscheiden. Für Leonhard Kreutzer war wichtig, dass Inge wieder da war, gerade jetzt, da er seinen Freunden so viele Umstände bereitete und ihnen nicht helfen konnte. Seine Gedanken kamen ihm wie Papierdrachen vor, die am Himmel in einen Wirbelsturm geraten waren und sich verhedderten und unentwegt im Kreis rasten.
Manchmal glaubte er, dass es vollkommen still in seinem Kopf sei. Dann wieder rollte ein Donner von einer Seite zur anderen, und ein entsetzlicher Schmerz breitete sich in ihm aus, für den er keine Stimme hatte.
Vielleicht täuschte er sich.
Er lag in einem dunklen Zimmer. Zwei Schläuche verbanden seinen Körper mit Maschinen. Er war am Leben. Vor einigen Stunden – oder Minuten? – war dieser Satz wie eine Leuchtschrift in seinem Kopf aufgetaucht. Er bildete sich ein, ihn sehen zu können. Wie seine Inge, die so deutlich vor ihm stand, als stünde sie neben seinem Bett. Sie trug ein grünes Kleid und gelbe Schuhe, obwohl so weit nach unten zu schauen ihm gar nicht möglich war. Warum eigentlich nicht?, dachte er einmal, dann vergaß er diesen Gedanken wieder.
Da war sie, und von ihrem Blick ging eine Freude aus wie in den schönen Zeiten, wenn sie abends erschöpft ihr Geschäft absperrten und sich an der Hand hielten. Das taten sie oft, und niemand hatte sie jemals dabei beobachtet, was ihnen nur recht war. Es war ein Ritual. Ein Glück wahrscheinlich.
So ein Wort hätte Inge nie in den Mund genommen. Aber wenn er jetzt an diese Augenblicke zurückdachte, fiel ihm kein anderes Wort dafür ein. Glück. Er wollte es aussprechen, aber es ging nicht. Er würde es später aussprechen, wenn die Schläuche aus seinem Körper verschwunden waren und er wieder in der Detektei saß, wo er seinen Platz und seine Aufgabe hatte.
Minuten – oder Sekunden? – vergingen, in denen Leonhard Kreutzer fast atemlos dalag und etwas nachspürte. Doch er spürte nichts, keine Schmerzen, kein Rasseln, kein Dröhnen im Kopf. Als würden die Drachen sanft am Himmel gleiten. Diese Stille war wie eine unendliche Geborgenheit.
Er hielt nach Inge Ausschau und sah sie nirgends. Vielleicht holte sie Wasser für die Tulpen, die sie mitgebracht hatte. Bald würde er gemeinsam mit ihr zu Abend essen, wie sie das nach Feierabend immer getan hatten, jahraus, jahrein. Meist bereiteten sie sich nur eine Brotzeit zu, aßen Brot und Aufschnitt, Gurken oder Tomaten. Kein Aufwand mehr nach einem langen Tag. Sie besprachen die nötigen Dinge, und er trank ein Bier und sie ein Glas Rotwein. Er wusste, dass sie manchmal eine halbe Flasche am Abend leerte, aber er sprach sie nie darauf an. Sie war nie betrunken oder zeigte es ihm nicht. Disziplin hatte sie, und Hingabe und Freude auch.
Da bist du ja wieder, sagte – oder dachte? – Leonhard Kreutzer und freute sich auf morgen, wenn er seiner Chefin berichten würde, was ihm wie aus dem Nichts heraus gerade eingefallen war.
Einer der Männer, die ihn zu Boden geschlagen hatten, hatte eine Tätowierung am Hals, einen Adler, der einen Fisch in seinen Klauen hielt.
Als sie zu den Toiletten im Tiefgeschoss ging, folgte ihr der Mann im schwarzen Rollkragenpullover. Im Flur vor den Türen sprach er sie an. Er hatte zwei Hocker neben ihr am Tresen gesessen und sie gelegentlich angesehen, ohne eine Miene zu verziehen. Sie hatte kein Interesse gehabt, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und war unsicher, wie sie weiter vorgehen
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