M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Fußboden bedeckte ein grauer Auslegeteppich, abgetreten und ausgeblichen. Vor dem Fenster hing eine grauweiße Gardine mit gesticktem Muster.
In diesem nachlässig eingerichteten, von nationalsozialistischen Machwerken überfüllten Apartment, dachte Süden, wohnte eine achtunddreißigjährige, noch nie straffällig gewordene, unverheiratete Journalistin mit fester Anstellung, deren Vater zwar im Verdacht gestanden hatte, rechtsextreme Gäste in seinem Hotel zu beherbergen, deren eigene Gesinnung und Lebenswandel jedoch niemandem auffielen.
Im Gegenteil: Mia Bischof engagierte sich in der Kinderbetreuung und unterstützte ledige und berufstätige Mütter bei der Bewältigung ihres schwierigen Alltags. Für eine passionierte Leserin und Sammlerin von Kinderbüchern ein fast zwangsläufiger Schritt, fand Süden. Wieder nahm er Bücher aus den Regalen, diesmal antiquarische Ausgaben, die Mia vermutlich von ihrem Vater geerbt hatte.
Ein Großteil der dicken Schwarten bestand aus historischen Werken. Süden entdeckte eine Trilogie mit den Titeln »Jungen im Dienst«, »Jungzug 2«, »Kanonier Brakke«, Abhandlungen über historische Figuren wie »Der erste Deutsche: Roman Hermann des Cheruskers«, »Ein Paar Reiterstiefel oder Die Schlacht bei Minden« oder auch ein Buch, dessen Titel ihm bekannt vorkam: »Hitlerjunge Quex«.
Er schlug das in Leinen gebundene Buch auf und las auf der ersten, vergilbten Seite, von Hand geschrieben: »Dem Oberst Geiger in Dankbarkeit – Baldur von Schirach«.
Süden wusste nicht mehr, von welchem Stapel er das Buch genommen hatte. Er hielt es mit beiden Händen fest und hätte es am liebsten fallen lassen. Während er dastand und einen fauligen Geruch wahrzunehmen glaubte, entdeckte er weitere Jugendbücher, von denen einige offensichtlich von Indianern handelten: »Tecumseh, der Berglöwe«, »Tecumsehs Tod – eine Erzählung vom Kampfe eines roten Mannes für sein Volk«. Oder: »Evchen Springenschmitt und ihre Geschwister«, »Das Soldatenkind«, »Henning sucht ihren Weg«. Süden schob das Quex-Buch über zwei andere ähnlich aussehende Bände und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen.
Der Besitz derartiger Bücher, dachte er, war nicht strafbar, Mia Bischof hatte nichts zu befürchten.
Weil er es eilig hatte, den Staub und den eingebildeten Schmierfilm von den Fingern zu reiben, lehnte er die Tür hinter sich an, drehte den Wasserhahn auf und rieb eine Minute lang die Hände aneinander. Als er den Kopf hob, stutzte er. Ohne den Hahn wieder zuzudrehen, starrte er in den Spiegel, mit nassen Händen, mit einem ungläubigen, verzerrten Gesichtsausdruck. Dann drehte er mechanisch den Hahn zu, riss mehrere Blätter Toilettenpapier ab, trocknete sich ab, warf das zerknüllte Papier in die Schüssel, drückte die Spülung und wandte sich zur Tür.
Dort hing ein Plakat des Films »Hitlerjunge Quex« unter der Regie von Hans Steinhoff, mit dem fett gedruckten Untertitel »Vom Opfergeist der deutschen Jugend«, in den Hauptrollen Heinrich George und Berta Drews. Am rechten unteren Rand entzifferte Süden im gelblichen Licht der Toilette eine Unterschrift. Wenn er sich nicht täuschte, lautete der Name Schanzinger oder Schenzinger, daneben eine Jahreszahl: 1933. Das Plakat zeigte einen blonden jungen Mann mit entschlossenem Blick und einer Hakenkreuzbinde am linken Oberarm.
Was Süden beim Anblick des Plakats so aufwühlte, war ihm nicht recht klar. Er hatte das Buch im Regal entdeckt, den Film hatte er nie gesehen, aber er wusste, dass es sich um einen der damals üblichen Propagandastreifen handelte. Mia Bischof lebte ein Doppelleben – das einer jungen, erfolgreichen Redakteurin bei einer angesehenen Tageszeitung, in dem sie dieselben Zöpfe trug wie in ihrem Zweitleben als braunes Mädel, eingehüllt in die schrundigen Schatten der Vergangenheit.
Das waren keine Schatten, dachte Süden. Das waren leibhaftige Gestalten, die ihre Stimmen erhoben und diese Frau aufforderten zu handeln. Stimmen, die Mia zwangen, Kinder in alter Manier zu erziehen und dafür zu sorgen, dass diese nicht in Berührung mit ausländischen Gleichaltrigen gerieten. Mia Bischof machte ihre Arbeit gut. Niemand sagte ihr etwas Schlechtes nach, niemals gab sie Anlass zu Kritik an ihrem Verhalten. Sie führte ein gewöhnliches Leben, unbehelligt von den Behörden, ähnlich wie ihr Vater.
Was Süden nicht für möglich gehalten hätte, war, dass seine Hand zitterte, als er das Filmplakat mit dem Handy
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