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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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fotografierte.
    Bücher, dachte er – vielleicht, um eine Erklärung für seinen verrutschten Zustand zu finden oder ein wenig Klarheit in diesem Schattenreich zu erlangen –, Bücher konnte man erben und sie, wenn man keinen Platz mehr im Keller hatte, ins Wohnzimmer stellen, hinter Glas oder offen und dann nicht weiter beachten. Die Bücher, die hier massenweise lagerten, redete Süden sich ein, bedeuteten zunächst nichts Bestimmtes. Mia Bischof hatte sie garantiert nicht gekauft, sie hatte sie geschenkt bekommen. Das war die eine Seite. Die andere Seite war das Plakat an der Innenseite der Klotür. Auch das musste sie geschenkt bekommen haben, aber sie hätte es zusammenrollen und unters Bett schieben oder im letzten Winkel des Kellers verräumen können. Es aufzuhängen bedeutete etwas. Es war ein Zeichen, eine Botschaft, wie das Symbol an der Kühlschranktür. Deutschland stirbt nicht. Und sie hatte die Botschaft angebracht, damit sie jeden Morgen und jeden Abend daran erinnert wurde.
    Darin lag der Grund für den gewaltigen Schrecken, der Süden so abrupt überfallen hatte: dass sein letzter Rest Glauben an Mia Bischofs innere Freiheit durch den Anblick des Plakats vernichtet worden war.
    Er stand in der Mitte des Zimmers und hörte von draußen – wie aus einer anderen Welt – das Geräusch des Regens. Dann öffnete er die Tür des Bauernschranks und begriff, dass er jede Art von Glauben an diese Frau im Grunde schon in dem Augenblick verloren hatte, als er vom Überfall auf Leonhard Kreutzer erfuhr.
    Im Schrank hing eine Unzahl von schwarzen und roten Wollröcken, weißen Kleidern und Blusen, karierten Röcken und Sakkos, T-Shirts in Schwarz-Rot-Gold, dazu zwei Jacken mit dem Aufdruck »Kameraden helfen Kameraden«. In den Regalen lagen Unterwäsche, Mützen und Schals, stapelweise Aktenordner, Papiere, Mappen mit Unterlagen, mehrere offenbar selbstgestrickte Pullover mit der Zahl 28 auf der Vorderseite. Auf dem Boden stapelten sich alte Zeitungen und Magazine, obenauf zahlreiche Ausgaben der Wochenzeitung »Junge Freiheit«.
    Süden nahm den gemusterten Militärrucksack heraus, der in der hinteren Ecke lehnte, und öffnete ihn: zusammengerollte Jeans, Hemden, Männersocken. Er leerte den Inhalt auf den Teppich. Außer den Kleidungsstücken fielen eine Handvoll Orden aus den zwanziger und dreißiger Jahren heraus, militärische Rangabzeichen, verschiedene nationalsozialistische Embleme, Anstecknadeln, Schulterklappen – alles beschädigt, verbogen, verblichen. Außerdem eine verkratzte Videokassette und ein Paar schmutzig-grüner, halb zerrissener Wollhandschuhe. Süden fotografierte die Sachen, danach das Innere des Schranks, schob den gefüllten Rucksack an seinen Platz zurück und rieb sich erneut die Hände an seiner Hose ab.
    Aus uralter Gewohnheit tastete Süden die Regale hinter der Wäsche und den Kleidungsstücken ab. Keine Waffen.
    Neben dem Bett stand ein von ausgeschnittenen Artikeln, Blöcken und Büchern überfüllter Schreibtisch. Darunter ein niedriger viereckiger Kasten mit drei Schubladen. Ohne wahre Neugier zog Süden sie auf und entdeckte weitere Akten, abgeheftete Zeitungsartikel zu gesellschaftspolitischen Themen. Schon die ersten Seiten strotzten vor Formulierungen wie »das Volksganze«, »die heilige Pflicht deutschbewusster Mütter«, »unsere schöne deutsche Heimat«, »unsere nationale Bewegung«. Die oberste Schublade war leer – bis auf den Prospekt eines Hotels und Restaurants mit dem Namen »Der Heimgarten«. Der aufklappbare sechsseitige Prospekt zeigte ein Landhaus mit blumengeschmückten Balkonen, einen lauschigen Biergarten, in orangefarbenen und roten Tönen eingerichtete Zimmer, einen idyllischen Weiher, Teller mit ansprechend zubereitetem Fisch und Salat, eine Familie in bayerischer Tracht mit Tochter und Sohn. Auf die Rückseite hatte jemand mit Kugelschreiber notiert: »Doppelzimmer 80 €, incl. Frühstück«. Das Anwesen lag etwa fünfzehn Kilometer südlich von München in der Nähe der Ortschaft Erl.
    Süden verglich die Schrift mit handgeschriebenen Papieren auf dem Schreibtisch, sie stimmte nicht überein. Er schrieb Name, Adresse und Telefonnummer des Hotels auf seinen kleinen Block, legte den Prospekt zurück und ging zur Tür. Allmählich bekam er in dem Zimmer keine Luft mehr. Auch wenn Mia Bischof am Überfall auf Leonhard Kreutzer nicht direkt beteiligt gewesen sein sollte – und davon ging Süden aus –, hatte sie dennoch nichts dagegen

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