Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
„Worte, nichts als Worte, aber ich weiß, dass Sie es ehrlich meinen. Jetzt hab ich Sie lange genug mit den sentimentalen Erinnerungen eines alten Mannes gelangweilt.“
„Das haben Sie nicht“, sagte Mabel ernst. „Ich bin nicht nur hier, um mich um Ihr körperliches Wohl zu kümmern, und Reden erleichtert die Seele, auch wenn es nichts gibt, das diesen Schmerz lindern kann.“
„Sie waren nie verheiratet?“, fragte Lord Douglas plötzlich. „Ich meine, Sie nennen sich Miss. Haben Sie auch schon einmal einen geliebten Menschen verloren?“
Einen Moment lang war Mabel versucht, seine Frage zu bejahen, um ihm das Gefühl zu geben, ihn zu verstehen. Dann entschloss sie sich aber, die Wahrheit zu sagen: „Nein, Captain, nicht so wie Sie Ihre Frau.“
Er nickte verstehend. „Egal, was die Leute sagen – ich weiß, dass Michelle mich wirklich geliebt hat. Wissen Sie was? Heimlich plante sie eine Feier anlässlich meines Geburtstages und wollte mich damit überraschen. Natürlich ließ ich sie in dem Glauben, ich hätte davon keine Ahnung, denn sie freute sich auf das Fest wie ein kleines Kind auf Weihnachten.“ Er schlug die Hände vors Gesicht, und Mabel hatte Mühe, seine folgenden Worte zu verstehen. „Warum setzte sie dann so unerwartet ihrem Leben ein Ende? Warum? Warum?“
Um das herauszufinden, bin ich hier, dachte Mabel. Obwohl Lord Douglas’ Geschichte ihr zu Herzen ging, frohlockte sie innerlich. Sie hatte nicht zu hoffen gewagt, so rasch Zugang zu ihm zu finden und so viel über ihn und Michelle zu erfahren. Alles, was er ihr erzählt hatte, deckte sich mit ihren Überlegungen: Es gab nicht den geringsten Grund, warum Michelle sich hätte töten sollen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht! Da konnten Chefinspektor Warden und Victor sagen, was sie wollten, sie, Mabel, würde nicht ruhen, bis sie herausgefunden hatte, wer bei Michelles Tod seine Hände im Spiel gehabt hatte. Hatte Mabel zuerst noch Zweifel gehabt – nach dem Gespräch mit Lord Douglas war sie nun davon überzeugt, dass Michelle gewaltsam getötet worden war.
Das Erzählen hatte Lord Douglas erschöpft, und er wünschte, sich hinzulegen und zu ruhen. Mabel gab ihm seine Medizin, danach begann sie, das Haus zu erkunden. Angela hatte es ihr nicht ausdrücklich verboten, außerdem würde es ohnehin niemand bemerken.
Es war sehr still, und Mabel fröstelte. Ein so großes Haus wie Allerby sollte ebenso wie Higher Barton von vielen Menschen bewohnt werden, damit es lebte. Die meisten Räume standen jedoch leer und die Möbel waren mit weißen Tüchern abgedeckt, um sie vor Staub zu schützen. Es war offensichtlich, dass Allerby selten Gäste beherbergte, und Mabel fragte sich, ob Michelle hier nicht recht einsam gewesen war – trotz der Liebe ihres Mannes. Eine Frau Ende zwanzig wollte doch unter Gleichaltrigen sein, Partys feiern, ins Kino und zum Tanzen gehen. Hatte Michelle die Gesellschaft ihres Mannes und ihrer Schwägerin wirklich ausgereicht? Es schien so gewesen zu sein, denn alles, was Lord Douglas über seine Frau erzählt hatte, deckte sich mit Mabels erstem Eindruck von ihr.
Gegenüber den Räumen von Captain Douglas stieß Mabel auf eine verschlossene Tür. Obwohl sie allein im Haus war, sah sie sich vorsichtig um, erst dann bückte sie sich und spähte durchs Schlüsselloch. Viel konnte sie nicht erkennen, aber ein Himmelbett mit zartblauen Vorhängen und ein Frisiertisch ließen darauf schließen, dass es sich um Michelles Zimmer handelte. Warum war es verschlossen? Hatte Lord Douglas das veranlasst, damit er nicht in Versuchung kam, den Raum zu betreten und dort in traurigen Erinnerungen zu versinken? Mabel wünschte, sich in dem Zimmer umsehen zu können, denn sie wusste nicht, ob sie noch einmal allein im Haus sein würde. Da sie jedoch keine Ahnung hatte, wo der Schlüssel aufbewahrt wurde, setzte sie die Erkundung des Hauses fort.
Später spazierte Mabel durch den weitläufigen Park von Allerby. Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Im letzten Sommer hatte Mabel ihre Liebe zum Gärtnern entdeckt und aus ihrem zuerst verwilderten Cottagegarten ein wahres Schmuckstück gemacht. Hier im Park war sie von der Artenvielfalt der Sträucher und Blumen beeindruckt und wurde von der einen oder anderen Gestaltung sogar dazu inspiriert, in ihrem eigenen Garten ähnliche Beete anzulegen. Etwa eine halbe Meile südlich des Herrenhauses stieß Mabel auf die Stallungen.
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