Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
die ihm eine ruhige Nacht bescheren würden, bevor sie ins Arbeitszimmer ging. Jane Carter-Jones erwartete sie bereits ungeduldig. Wie die Königin höchstpersönlich thronte sie in einem Sessel und musterte Mabel eingehend aus engstehenden, blassblauen Augen. Ihre Nase war spitz, das Kinn fliehend und ihre Statur hochgewachsen und hager.
„Das wurde auch Zeit“, blaffte sie unfreundlich. „Hat Angela Ihnen nicht ausgerichtet, dass ich Sie sprechen will? Ich bin daran gewöhnt, dass meine Wünsche respektiert werden.“
Mabel nickte ruhig. Sie würde sich von dieser Frau nicht wie eine Dienstmagd behandeln lassen.
„Da es an der Zeit war, Captain Douglas seine Medizin zu geben, habe ich mich zuerst um Ihren Bruder gekümmert. Aus diesem Grund bin ich hier, und ich bin daran gewöhnt, meine Arbeit gewissenhaft und pünktlich zu tun.“
Jane Carter-Jones verschlug es die Sprache. Offenbar wagte nicht oft jemand, ihr zu widersprechen.
Mabel fuhr freundlicher fort: „Sie wünschten, mich zu sprechen?“
„Nun sind Sie ja hier“, bemerkte Lady Jane kühl. „Es ist bedauerlich, dass ich bei Ihrer Einstellung nicht hier sein konnte, aber unabänderlich. Erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass Sie kein junges, flatterhaftes Ding sind, das versucht, meinem Bruder den Kopf zu verdrehen.“
Mabel schnappte nach Luft, von diesen offenen Worten unangenehm berührt. Da sie mit ihrer Meinung selten hinter dem Berg hielt, erwiderte sie den bohrenden Blick von Jane Carter-Jones und sagte laut: „Bei allem Respekt, aber Ihre Schwägerin ist erst seit wenigen Tagen tot. Ich nehme nicht an, dass Captain Douglas der Sinn nach einer neuen Beziehung steht …“
„Was mein Bruder denkt und fühlt, weiß ich wohl besser“, unterbrach Lady Jane sie scharf. „Sie sind hier, um sich um ihn zu kümmern, denn er ist hilflos wie ein kleines Kind. Mag Michelle auch eine äußerst zweifelhafte Person gewesen sein, es ist nicht zu leugnen, dass sie eine gute Pflegekraft war. Nun, bei der Aussicht auf das Erbe, dass mein Bruder ihr hinterlassen hätte, wäre er vor ihr gestorben, war das auch zu erwarten.“
Unwillig runzelte Mabel die Stirn und schnaubte. Obwohl Michelle bereits Andeutungen gemacht hatte, hatte Mabel nicht mit einer so offenen Ablehnung durch deren Schwägerin gerechnet, die sogar noch über den Tod hinausging. Augenscheinlich war Jane Carter-Jones über den bestehenden Ehevertrag nicht informiert, und Mabel sah keinen Grund, die Frau darüber aufzuklären, was Lord Douglas ihr anvertraut hatte. Die Ehe ihres Bruders war Lady Jane offensichtlich ein Dorn im Auge gewesen, und sie war über Michelles Tod sicher nicht traurig.
„Ich kümmere mich um meinen Bruder, seit er ein Kind war“, fuhr Jane Carter-Jones fort. „Unsere Eltern starben bei einem Unfall, danach lagen die Verwaltung von Allerby House und Douglas’ Erziehung in meinen Händen. Ich finde, das sollten Sie wissen, Miss Daniels. Sie werden mir täglich über den Gesundheitszustand meines Bruders Bericht erstatten. Sollten Sie Ihre Arbeit vernachlässigen oder gar etwas tun, das nicht zum Wohle meines Bruders ist, können Sie auf der Stelle Ihre Koffer packen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“
Mabel hatte Mühe, auf eine scharfe Antwort zu verzichten, obwohl ihr so einiges auf der Zunge brannte, das sie dieser arroganten Dame gerne gesagt hätte. Sie musste jetzt aber taktisch vorgehen und versuchen, das Vertrauen von Douglas’ Schwester zu erringen, denn diese Frau verbarg etwas. Unwillkürlich schoss Mabel der Gedanke durch den Kopf, ob Lady Jane bei Michelles Tod nicht vielleicht nachgeholfen hatte, wobei eine solche Überlegung sehr vermessen war. Sie kannte die Frau erst wenige Minuten, und auch wenn sie ihr von Herzen unsympathisch war – sie eines Mordes zu verdächtigen, ging entschieden zu weit.
Daher erwiderte Mabel mit einem unverbindlichen Lächeln: „Selbstverständlich, Lady Carter-Jones. Das Wohl Ihres Bruders steht an erster Stelle.“
Lady Jane kniff die Augen zusammen und sagte mit leiser, eindringlicher Stimme: „Allerby House ist seit Generationen im Familienbesitz und die meiste Zeit war unser Name frei von Skandalen. Der Tod meiner Schwägerin …“ Sie stockte und suchte offenbar nach den richtigen Worten. „Wir – mein Bruder und ich – werden es ertragen müssen, wenngleich ich weiß, was hinter vorgehaltener Hand geredet wird. Sie wissen über diese unangenehme Angelegenheit doch Bescheid, nicht
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