Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
wahr?“
„Ja, Lady Carter-Jones, es blieb mir nicht verborgen“, antwortete Mabel.
„Damit eines klar ist, Miss Daniels: Ich dulde keinen Klatsch unter dem Personal oder gar Fremden gegenüber und erwarte absolute Loyalität. Alles, was in diesem Haus geschieht oder geschehen ist, bleibt in den vier Wänden. Ich hoffe, Sie neigen nicht zum Tratschen.“
„Natürlich nicht!“, gab Mabel entrüstet zurück. „Ich bin hier, um meine Arbeit zu machen, andere Belange sind mir gleichgültig.“
„Gut.“ Jane Carter-Jones nickte zufrieden und wechselte dann das Thema. „Stammen Sie aus der Gegend?“
„Nein, ursprünglich komme ich aus London und bin erst seit kurzer Zeit in Cornwall“, antwortete Mabel ehrlich. „Das milde Klima hier bekommt mir besser.“
„Dann haben Sie von dem Skandal, der vor einem knappen Jahr die halbe Grafschaft erschütterte, nichts mitbekommen?“
„Nicht, dass ich wüsste – und wie wir eben feststellten, interessiere ich mich nicht für Klatsch.“ Diese Spitze konnte Mabel sich nicht verkneifen.
Lady Jane reagierte sofort: „Das war kein Klatsch, sondern eine ganz unangenehme Sache, in die eine Dame der obersten Gesellschaft verwickelt war.“ Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „In der Nähe gibt es ein Anwesen, etwas älter als Allerby House. Die Eigentümerin, eine ältere, recht exzentrische Dame, hatte eine Affäre mit ihrem Chauffeur, der ihr Sohn hätte sein können, und wurde dadurch in einen schrecklichen Mordfall verwickelt. Vielleicht haben Sie den Namen des Hauses schon gehört. Der Besitz nennt sich Higher Barton.“
Mabel blieb ruhig; ihre Miene drückte keine Gefühlsregung aus, als sie erwiderte: „Es tut mir leid, aber wie ich bereits sagte, Klatsch und Tratsch interessieren mich nicht, daher ist mir diese Geschichte unbekannt.“ Wie du lügen kannst, dachte sie und hoffte, Jane Carter-Jones würde das leichte Zittern ihrer Hände nicht bemerken.
Das war offenbar nicht der Fall, denn Lady Jane räusperte sich, musterte Mabel von oben bis unten und fragte plötzlich: „Sind Sie nicht ein wenig zu alt, um als Pflegerin für einen Behinderten zu arbeiten? Warum sind Sie eigentlich noch nicht in Rente? Die sechzig haben Sie doch sicher längst überschritten, nicht wahr?“
Mabels Lächeln blieb unverändert, als sie antwortete: „Sie haben recht, ich bin tatsächlich bereits im Ruhestand. Da ich aber keine Familie habe, außerdem gesund und körperlich fit bin, fühle ich mich noch zu jung, um die Hände in den Schoß zu legen. Nachdem ich meine Tätigkeit im Krankenhaus aufgegeben hatte, entschloss ich mich, meine langjährigen Erfahrungen nun als private Pflegerin zu nutzen.“
„An welchem Krankenhaus waren Sie tätig?“
„London Bridge Hospital“, antwortete Mabel ehrlich, um sich bei weiteren Fragen nach ihrer früheren Tätigkeit nicht in Widersprüche zu verwickeln.
Zum ersten Mal zeigte sich die Andeutung eines Lächelns auf Jane Carter-Jones’ schmalen Lippen, und sie nickte wohlwollend. „Sie scheinen eine vernünftige Frau zu sein. Ich glaube, wir werden uns verstehen, wenn Sie meinen Anweisungen folgen und meine Wünsche respektieren. Jeden Abend nach dem Dinner werden Sie mir über den Zustand meines Bruders berichten. Lassen Sie mich jetzt allein, wir sehen uns morgen.“
Mit einem Gute-Nacht-Gruß zog Mabel sich zurück. In ihrem Zimmer stützte sie sich auf die Fensterbank und schaute in den inzwischen dunklen Garten. Sie wusste nicht, wie sie Jane Carter-Jones einschätzen sollte. Diese schien durch und durch eine Dame zu sein, die auf den guten Ruf ihres Hauses bedacht war, dabei aber aalglatt, ohne Ecken und Kanten. Solche bei Lady Jane zu finden, war Mabels Aufgabe, denn sie konnte und wollte sie aus dem Kreis der Verdächtigen um Michelles Tod nicht ausschließen.
Mabel nahm ihr Handy, aber ihre Finger verharrten auf der Taste, unter der sie Victors Nummer gespeichert hatte. Wie gern hätte sie sich jetzt mit dem Freund ausgetauscht. Sie befürchtete aber, er würde sie erneut abweisen oder das Gespräch vielleicht gar nicht erst annehmen, wenn er ihre Nummer auf dem Display sah. Die Unstimmigkeit mit Victor belastete Mabel sehr. Vielleicht würde er einlenken, wenn er erfuhr, was sie in kurzer Zeit bereits herausgefunden hatte. Dafür war ein Telefonat aber ungeeignet, sie musste persönlich mit ihm sprechen. In der Regel ruhte Lord Douglas am Nachmittag für zwei, drei Stunden, in
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