Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
Überrascht stellte sie fest, dass in den hellen, sauberen Boxen mehrere Pferde standen, die aufgeregt schnaubten, als sie den Stall betrat.
„Ist ja gut, mein Kleiner“, sagte Mabel und strich einem Schimmel, der seinen Kopf weit über das Gatter reckte, über den Kopf.
In ihrer Jugend war Mabel viel geritten, hatte dann aber nicht mehr die Zeit gehabt, sich um ein Pferd zu kümmern. Außerdem war es nicht einfach, regelmäßig auszureiten, wenn man mitten in London lebte und arbeitete. Am liebsten hätte Mabel sich einen der an der Seite hängenden Sättel geschnappt und sich auf den Pferderücken geschwungen. Reiten verlernte man ebenso wenig wie Schwimmen oder Fahrradfahren. Mabel war aber vernünftig genug, ihrem Wunsch nicht nachzugeben. Nicht nur, weil sie nach den vielen Jahrzehnten nicht mehr die Gelenkigste war, sondern auch, weil die Pferde sie nicht kannten und Captain Douglas gehörten. Sie war hier nur die Pflegerin und durfte nicht eigenmächtig ein Pferd aus dem Stall reiten.
Mabel wunderte sich, dass niemand zu sehen war, darum verließ sie den Stall und umrundete das Gebäude. Nur wenige Yards entfernt befand sich ein kleines Cottage, dessen Tür offen stand.
„Hallo?“, rief Mabel. „Ist jemand hier?“
Ein Teenager, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, trat aus dem Cottage und schob sein Basecap, das er verkehrtherum trug, nach hinten. „Sie wünschen?“, fragte er. Dabei musterte er Mabel skeptisch, aber nicht unfreundlich.
„Bis du für die Pferde verantwortlich?“, fragte sie.
Der Junge nickte. „Eigentlich mein Dad, aber der musste mal weg, darum mache ich mich hier nützlich. Und wer sind Sie?“
„Mabel Daniels, ich kümmere mich um Captain Douglas.“
Die noch weichen Gesichtszüge des Jungen entspannten sich. „Hab schon von Ihnen gehört, Miss. Wollen Sie ausreiten?“
Am liebsten hätte Mabel laut „Ja!“ gerufen, aber ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie ins Haus zurück musste. Es war Zeit, Lord Douglas zu wecken und ihm seine Medikamente zu geben.
„Heute nicht, danke, vielleicht ein anderes Mal. Sag, werden die Tiere eigentlich regelmäßig geritten?“, fragte sie.
Der Junge krauste die Nase und schüttelte den Kopf. „Nee, in letzter Zeit nicht mehr. Lady Michelle ist früher fast jeden Tag geritten, aber nun kommt nur noch Lady Jane ein- oder zweimal die Woche. Tja, und der Captain …“ Den Rest des Satzes ließ er offen, und Mabel nickte verstehend.
„Ich werde Captain Douglas fragen, ob ich einmal ausreiten darf“, sagte sie. „Wie ist eigentlich dein Name?“
„Billy – also, William, aber alle nennen mich Billy. War nett, Sie kennenzulernen, Miss. Und wenn Sie ausreiten wollen, rufen Sie einfach kurz durch, mein Dad oder ich machen Ihnen dann ein Pferd fertig.“
Mabel war von den Umgangsformen des Jungen angenehm überrascht, sie hatte schon deutlich negativere Erfahrungen machen müssen. In den Augen der meisten jungen Leute gehörte man mit grauen Haaren und ein paar Falten im Gesicht zum alten Eisen und wurde oft nicht mehr ernst genommen. Das war alles eine Sache der Erziehung durch die Eltern. Billy hatte weder mit einer Geste noch mit einem Wort angedeutet, dass Mabel für einen Ausritt vielleicht zu alt sei. Sie beschloss, Douglas Carter-Jones zu fragen, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie den Versuch wagen sollte, sich mal wieder auf einen Pferderücken zu schwingen.
Am Abend kehrte nicht nur Angela Thorn, sondern auch Lord Douglas’ ältere Schwester nach Allerby zurück. Die Haushälterin richtete Mabel aus, Jane Carter-Jones wünsche sie unverzüglich zu sprechen.
Mabel ergriff gleich die Gelegenheit beim Schopf und fragte: „Angela, das Zimmer auf der rechten Seite im ersten Stock – wurde das von Lady Michelle bewohnt?“
Angela nickte. Sie schien sich nicht zu wundern, warum Mabel fragte, und antwortete: „Lady Jane hat die Räume nach dem Tod verschließen lassen.“
„Räume?“
„Ja, denn an das Schlafzimmer grenzt das Badezimmer, in dem … Na, Sie wissen schon. Lady Jane möchte nicht, dass ihr Bruder dort hineingeht.“
Mabel verstand Jane Carter-Jones’ Beweggründe. Sie wollte Angela aber nicht nach dem Schlüssel fragen, denn es gab für sie ja offiziell keinen Grund, Michelles Räume zu betreten. Sie musste also abwarten, ob sich nicht eine günstige Gelegenheit dafür ergab.
Mabel brachte Lord Douglas zuerst ins Bett und gab ihm ein Glas Wasser mit Tropfen,
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