Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
antworten würde.
Zur selben Zeit saß Victor an seinem Küchentisch und kaute an einem Schinkentoast. Das war sein ganzes Mittagessen, denn unter der Woche hatte er weder Zeit noch Lust, ins Sailors’ Rest, den einzigen Pub in Lower Barton, zum Essen zu gehen. Um ihn herum herrschte das Chaos – leere Schachteln von Fertiggerichten, die man nur in der Mikrowelle erwärmen musste, stapelten sich zusammen mit den Pappkartons des Pizzaservices, von dem Victor sich jeden Abend etwas kommen ließ. Gebrauchtes Geschirr lag in der Spüle. Victor konnte sich aber nicht dazu aufraffen, es abzuwaschen, denn noch gab es unbenutzte Teller und Tassen im Küchenschrank.
Als es klingelte, stand er auf, ging zur Treppe und rief in den Hausflur hinunter: „Die Tür ist offen, kommen Sie einfach herein.“
Da Victor keine Lust hatte, jedes Mal, wenn er in der Wohnung oben war und es klingelte, die steile Treppe hinunterzugehen, verschloss er die Haustür nur bei Nacht. Er hatte keine Angst vor Dieben oder Einbrechern – was gab es im Haus eines Tierarztes schon zu stehlen?
Ein mittelgroßer, attraktiver Mann Anfang vierzig in einem perfekt geschnittenen, teuren Anzug und mit modischer Brille trat in den Flur und sah nach oben.
„Alan?“, rief Victor erstaunt. „Was führt dich mitten in der Woche hierher?“
Der Besucher grinste. „Ich hatte einen Termin in Looe, und da ich noch etwas Zeit habe, dachte ich, ich schaue mal bei euch vorbei. Vielleicht könnte ich eine Tasse von Mabels köstlichem Tee bekommen? Wie geht es denn so, Onkel Victor?“
Alan Trengove, einer der besten Anwälte in Cornwall, war Victors Patenkind, der Sohn eines Jugendfreundes. Die beiden hatten ein inniges Verhältnis zueinander. Das war nicht immer so gewesen, im Gegenteil. Viele Jahre lang waren sie sich aus dem Weg gegangen; seitdem Alan Victor aber vor einigen Monaten das Leben gerettet hatte, waren alle Missverständnisse der Vergangenheit aus dem Weg geräumt und Alan ein häufiger Gast in Lower Barton.
„Komm hoch, ich bin gerade beim Lunch“, sagte Victor, der sich ehrlich freute, seinen Patensohn zu sehen.
Als Alan die Küche betrat, konnte er sein Entsetzen nicht verbergen und zog hörbar die Luft ein. „Du meine Güte, wie sieht es denn hier aus?“ Er machte eine raumgreifende Handbewegung. „Hat etwa ein Bombe eingeschlagen, und ich habe es nicht mitbekommen?“
„Mabel ist weg.“
„Wie?“ Alan sah Victor fassungslos an. „Was meinst du mit ‚weg‘?“
„Na, fort, eben nicht mehr hier.“ Victor wischte einen Stapel Zeitungen vom Stuhl, damit Alan sich setzen konnte.
„Hast du sie nun etwa auch vergrault?“, fragte dieser entsetzt. „Eigentlich hielt ich Mabel für recht widerstandsfähig, was dein missmutiges und abweisendes Verhalten angeht, und dachte, ihr würdet euch prima verstehen. Was ist vorgefallen? Es muss etwas Schwerwiegendes gewesen sein, denn so leicht hat Mabel das Handtuch sicher nicht geworfen.“
„Sie ist nun in anderen Diensten.“ Victor fiel es sichtlich schwer, darüber zu sprechen. „Hat mich einfach im Stich gelassen und arbeitet jetzt bei so einem reichen alten Kauz. Na, der kann ihr natürlich mehr bieten: großes Haus, viel Geld, Personal und so. Da kann ich nicht mithalten.“ In den letzten Tagen hatte Victor sich derart in die Vorstellung, Mabel wäre nach Allerby House gegangen, weil sie bei ihm nicht mehr zufrieden war, hineingesteigert, dass er selbst an das glaubte, was er Alan sagte.
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Verwirrt strich Alan sich über das streng nach hinten gekämmte und mit Gel fixierte Haar. „Na los, Onkel, raus mit der Wahrheit! Da steckt doch mehr dahinter.“
„Sitze ich hier etwa auf der Anklagebank?“, versuchte Victor zu scherzen.
„Keineswegs, außerdem bin ich Anwalt und kein Richter“, gab Alan zurück. „Und als Anwalt rate ich dir, mir alles zu erzählen, denn so ganz ohne Grund hat Mabel dich sicherlich nicht verlassen.“
Victor zögerte, gab sich dann aber einen Ruck: „Also gut.“ Für einen Moment hatte er sich in der Rolle des Märtyrers, der von Mabel einfach im Stich gelassen worden war, wohl gefühlt, obwohl er wusste, dass er die Tatsachen verdrehte. Doch nun sagte er ehrlich: „Mabel hat mich um Urlaub gebeten, da sie meint, einem Verbrechen auf der Spur zu sein. Dafür musste sie Lower Barton verlassen.“
Alan lachte befreit. Einen Augenblick lang hatte er wirklich gedacht, sich in Mabel getäuscht zu haben.
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