Macabros 009: Blutregen
Wann?«
Keine Antwort.
Christopher Baring erkannte seinen Fehler. Er hatte zwei Fragen
gestellt. Er mußte chronologisch eine nach der anderen
stellen.
Er wiederholte den ersten Teil der Frage. Und Gladis’ Geist
antwortete.
»Bei der Geburt meines Sohnes. Nach Vaters Tod habe ich das
Haus verlassen.«
»Wann bist du gestorben?«
»1674.«
Gladis Corkshere war einundzwanzig Jahre alt geworden.
»Warum hast du das Haus verlassen, Gladis?«
Keine Antwort. Dafür kam ein Stöhnen aus der Kehle
Camillas. Und sie sprach.
»Sie ist… in großer Aufregung… ich sehe sie
das… Haus verlassen… sie hat Blut an den Händen…
ein Messer… sie wirft es weg… überall stehen
Bäume, Büsche, Dickicht… Gladis Corkshere wird von
einer Bande umherziehender Strolche gefangengenommen. Sie begleitet
die Bande.« Ganz schnell und ganz leise sprudelten die Worte aus
dem Mund des Mediums. »Sie bleibt bei dieser Bande. Der
Hauptmann macht sie zu seiner Geliebten. Sie gebiert ihm ein Kind.
Gladis Corkshere erholt sich nicht mehr von der Geburt. Ich sehe
alles vor mir, alles ganz klar…«
Camilla Davies schwieg wieder.
Noch bestand das Gebilde, aber es war in stärkere Bewegung
geraten, als ob ein leichter Wind durch es erfaßt
hätte.
Völlige Stille. Keiner wagte richtig zu atmen.
Das leise Rauschen des Kassettengerätes fiel plötzlich
auf.
»Gladis Corkshere, kannst du mich hören?« versuchte
Christopher Baring erneut den Kontakt aufzunehmen.
»Ja.«
»Du hattest Blut an den Händen, Gladis Corshere. Was ist
passiert?«
»Tod… Ihr müßt mir helfen, mir meine Ruhe
geben!«
Es klang flehentlich, wie ein Aufschrei.
»Blut… überall Blut… Vater… das
Messer… ich wollte es nicht, ich mußte es tun… der
Zwang, der anderen… er ist so stark…«
»Die anderen, Gladis Corkshere? Wer sind die anderen?«
Und noch während Baring seine Fragen abschoß, spürten
alle den verderblichen Einfluß, der wie ein böser Atem
durch den Raum wehte.
Ein Gefühl von Angst und Grauen überfiel sie. Die
Dunkelheit in den Ecken schien dichter zu werden und zu pulsieren. Es
war keine Täuschung. Sie bemerkten es alle. Die Atmosphäre
verdichtete sich, als stiege etwas aus einer unvorstellbaren Tiefe
empor, als ströme das Böse, Unfaßbare und
Unbeschreibliche, das man nicht sehen konnte, aus den Ritzen und
Spalten der Decke, des Fußbodens und der Wände.
Es fiel sie an. Und das Grauen schnürte ihnen die Kehle
zu.
»Wer sind die anderen, Gladis Corkshere?« Baring
ließ nicht locker. Er fühlte, daß er auf ein
großes Geheimnis gestoßen war, das in Bewegung geraten
war.
Camillas hochsensible Sinne und der ruhelose Geist der vor
dreihundert Jahren gestorbenen Gladis Corkshere hatten etwas geweckt,
dessen Nähe sie alle fühlten.
»Ich weiß nicht… andere… vor meiner
Zeit…« Abgehackt und stockend berichtete die Stimme von
Gladis Corkshere. »Sie waren hier… ich habe sie
erhört… ihre Wünsche… Blutdurst… Vater,
verzeih! Deine Tochter hat dich ermordet. Sie kann keine Ruhe finden,
sie gehört nicht mehr zu den Lebenden – aber auch nicht zu
denen, die ihre ewige Ruhe gefunden haben. Ruhelos ist mein Geist
geworden, aber er kann befreit werden. Ihr
müßt…«
Da kam der Blitz.
Eine Flamme stand über dem Tisch.
Ein wilder Aufschrei, von dem keiner wußte, ob er aus dem
Ektoplasmagebilde kam oder aus der Kehle des Mediums, das in diesen
Sekunden sichtlich schreckliche Qualen durchzustehen hatte.
Camilla bäumte sich auf.
Sie riß sich los.
Niemand konnte es verhindern.
Die Materialisation Gladis Corksheres schrumpfte zu einer luftigen
Sprechblase vor den Lippen des Mediums zusammen und löste sich
vollständig auf.
Innerhalb von drei Sekunden war alles zu Ende.
Sie sahen alle, wie Camilla Davies von ihrem Stuhl aufsprang, wie
sie die Arme hochwarf. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
Die Flamme über dem Tisch fiel in sich zusammen. Nur noch die
winzige Kerzenflamme flackerte heftig hin und her.
»Camilla!«
Christopher Baring konnte nicht fassen, was da geschah.
Das Medium stand plötzlich nicht mehr auf der Stelle.
Es war – verschwunden.
Camilla Davies hatte sich in Nichts aufgelöst.
*
Sie standen da wie erstarrt.
Baring faßte sich zuerst, riß die Taschenlampe aus der
Tasche seines Jackets und knipste sie an.
Der Strahl lag zitternd auf der freien Sitzfläche. Dort hatte
Camilla vor wenigen Atemzügen noch gesessen.
»Das gibt es nicht«, entrann es den Lippen von
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