Macabros 009: Blutregen
ungewöhnlich milde, eine geradezu warme
Nacht.
Aber so warm war es doch in London nicht gewesen. Unangenehm kalt
war es dort.
Sie blickte sich um. Die Umgebung war ihr unbekannt. Die kleinen
Häuser, die in der Nähe des Stalles standen, waren ihr
fremd.
Dies war nicht London.
Es war auch nicht die Umgebung von London. Hier standen einfache
Holzhütten, dahinter dehnte sich ein großer Garten aus, in
dem Palmen standen. Kokospalmen! Sie konnte die hohen Bäume
unter dem sternenübersäten, klaren Himmel deutlich
wahrnehmen.
Sie befand sich auf einem Bauernhof in einem fremden Land.
*
Sie brauchte einige Minuten, um sich darüber klarzuwerden,
daß dies wirklich kein Traum war.
Sie sah sich in der Umgebung um, verließ den kleinen Hof, in
dem alles schlief. Ganz in der Nähe grunzten Schweine. Das kam
von Nachbargrundstück.
Camilla stand kurz darauf auf einer einfachen, dünn
asphaltierten Straße.
Die Umgebung war Flachland, nur wenige Häuser hier und da,
einzeln oder in Gruppen.
Ein leises Rauschen lag in der Luft. Das kam vom Wasser. Das Meer
lag in der Nähe.
Minutenlang stand sie unschlüssig herum und wußte
nicht, was sie unternehmen sollte.
Einfach zu einem Haus gehen und so lange Krach schlagen, bis
jemand wach wurde und nachsah, was eigentlich los war.
Das konnte sie nicht riskieren. Sie wußte nicht, wie die
fremden Menschen ihr hier gesinnt waren und ob man sie überhaupt
verstehen würde. Die Tatsache, daß sie sich mitten in der
Nacht hier herumtrieb, konnte mißverstanden werden.
Sie verließ sich ganz auf ihr Gefühl. Instinktiv
spürte sie, daß London unendlich weit weg sein
mußte.
Dieses andere Klima und die andere Zeit. In England war es
später Abend gewesen. Als die Seance ihren Höhepunkt
erreicht hatte, war es höchstens sieben Uhr gewesen.
Hier aber herrschte Nacht, tiefe Nacht. Alles schlief. Nirgends
brannte Licht, nirgends ein Geräusch, das auf wache Menschen
hätte schließen lassen.
Ein unheimliches Gefühl beschlich sie.
Aber dann sagte sie sich, daß sie eigentlich nichts zu
fürchten hatte.
Sie mußte den Tag abwarten, dann konnte sie sich bemerkbar
machen und erklären, wo sie hingehörte.
Doch ehe sie diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, folgten schon
wieder Zweifel.
Wie konnte sie erklären, auf welche Weise sie hierhergekommen
war?
Kein Mensch würde ihr glauben.
Sie begann zu rennen. Sie mußte wissen, wo sie sich befand.
Vielleicht gab es auf dieser Straße ein Hinweisschild oder so
etwas Ähnliches.
Das gab es.
Sie fand es fünf Minuten später.
Auf einem weißen Schild blaue Schrift. Große,
unleserliche Zeichen, die an chinesische Symbole erinnerten, darunter
lateinische Buchstaben: Bangkok.
Neben dran eine Zahl »Bangkok – 3 Miles«.
*
Konnte das wahr sein?
Das Schild sagte genug.
Mit zusammengepreßten Lippen lief die Engländerin
weiter. Die Straße war holprig und schmal.
Camilla befand sich auf dem flachen Land außerhalb eines
Stadtkerns. Sie kam an großen Obstgärten und
Kokosplantagen vorbei. Streckenweise waren ausgedehnte Reisfelder
angelegt.
Sie fühlte sich, als wäre sie der einzige Mensch auf der
Welt.
Aber dann kam etwas auf sie zu.
Sie hörte das Geräusch eines über die Straße
holpernden Wagens.
Es war ein zweirädriges Gefährt, von zwei Ochsen
gezogen, das aus Richtung Bangkok kam.
Sie hörte Lachen und Lärmen, junge, fröhliche
Stimmen.
Hinter einer Palmgruppe am Wegrand versteckte sie sich, um erst zu
sehen, was los war.
Ein Karren voller junger Menschen, die von einer Festlichkeit
kamen, holperte auf sie zu.
Junge Männer und Mädchen.
Schöne Frauen in luftigen Kleidern. Einige der
schwarzhaarigen Schönen trugen Blumen im Haar. Auf dem Wagen
wurde geflirtet und geküßt. Sogar der Wagenlenker
beteiligte sich daran. Das hatte zur Folge, daß er nicht auf
seine beiden Zugtiere achtete und auch nicht auf die
Straße.
Erst als es krachte, wollte er noch etwas unternehmen. Aber da war
es schon zu spät.
Das linke Wagenrad rutschte von der Straße ab und versackte
in den schmalen Graben, hinter dem ein Reisfeld begann.
Der Unfall passierte so dicht an der Kokospalmgruppe, daß
Camilla Davies erschrocken die Augen schloß.
Jetzt war sie entdeckt. Man konnte sie nicht übersehen.
Die lauten Stimmen erfüllten die Nacht. Es gab ein
allgemeines Durcheinander. Es war kein schwerer Unfall.
Zwei besonders eifrige Küsser merkten gar nicht, was los war.
Sie flogen in hohem Bogen eng
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