Macabros 016: Geisterheere aus dem Jenseits
gegangen zu sein. Entweder hat ein
Geschäftspartner sein Gesicht nicht mehr gemocht oder ein
Konkurrent hat den Job übernommen – oder Bollon hat einen
übers Ohr gehauen und der hat es gemerkt.«
Verdon kaute auf seiner Unterlippe herum. Er ging zum Fenster, das
halb offenstand. Das Büro lag im dritten Stock. Von hier aus
hatte man einen Blick über die alten Dächer der Stadt, den
Marktplatz mit den bunten Sonnenschirmen und die vielen kleinen
Geschäfte, welche die Touristen anlockten.
Aigues Mortes war Anziehungspunkt dieses Gebietes. Die Stadt war
von einer vollständig erhaltenen Mauer umschlossen, die
annähernd ein Rechteck bildete. Die Menschen waren arm und
lebten hauptsächlich vom Tourismus.
»Eines allerdings ist in diesem Zusammenhang doch komisch,
und ich frage mich, ob meine Gedankengänge wirklich richtig
sind«, fügte er murmelnd hinzu.
Richeau unterbrach seinen Chef nicht, und er stellte auch keine
Fragen. Aus Erfahrung wußte er, das Verdon laut dachte und
seine Kombinationen anstellte.
»Die Geschichte, von der wir vorhin ebenfalls Mitteilung
erhielten und die unsere Kollegen in Agde beschäftigt«,
fuhr er unaufgefordert fort. »Ich muß dauernd daran
denken. Der Vorfall in der Villa der Millionärswitwe – wie
sehen Sie ihn, Richeau?«
Der Assistent hatte mit dieser unverhofften Frage nicht gerechnet.
»Ziemlich mysteriöse Sache«, sagte er langsam.
»Wenn wir unseren Fall dagegenhalten, könnte man fast
meinen, ein und derselbe Mörder wäre tätig
gewesen.«
Verdon nickte. »Genau das ist es. Madame Munuel wurde mit
einer Waffe niedergestochen, die in ihren Dimensionen der Tatwaffe,
mit der Gerard Bollon ermordet wurde, ähnelt. Die alte
Köchin muß ebenfalls mit dieser Waffe getötet worden
sein. Auch von der Zeit her kann es sich um den gleichen Täter
handeln. Erst der Mord in der Umgebung von Agde, dann hier.
Zweieinhalb Stunden Spielraum sind genug. Aber: dann stimmt die ganze
Theorie nicht, die ich eben über Gerard Bollon und seinen
vermutlichen Komplicen oder Widersacher aufgestellt habe. Madame
Munuel und deren Köchin werden wohl kaum gemeinsame Sache mit
einem eiskalten Mörder gemacht haben.«
Verdon wandte sich wieder dem Fenster zu und stützte sich mit
beiden Händen auf die Fensterbank.
Jemand befand sich auf dem Dach, aber weder Verdon noch Richeau
merkten etwas davon.
Sie wurden beobachtet, und dem Besucher entging nichts von ihrem
Gespräch, das sie führten und bei dem sie sich unbeobachtet
fühlten.
Macabros, Björn Hellmarks Doppelkörper, war in der
Nähe.
*
Macabros sah, daß der Kommissar sich vorn Fenster
zurückzog.
Der Franzose diskutierte weiter mit seinem Mitarbeiter über
die vermutlichen Widersprüche und undurchsichtigen
Zusammenhänge, und jedes einzelne Wort bekam er mit.
»Zwei Dinge wissen wir mit Gewißheit: Bollon war ein
Schwein«, fuhr Verdon fort. »Das muß jedoch nicht
bedeuten, daß er auch diesmal eine gesetzwidrige Angelegenheit
nach La Grande Motte gebracht hat. Sie fahren nach Agde, Richeau!
Nehmen Sie die Unterlagen mit und sprechen Sie dort mit dem
federführenden Mann! Ich bin sicher, daß wir uns
zusammensetzen müssen. Hier ist etwas faul. Versuchen Sie
außerdem, ein Gespräch mit dem Arzt des Hospitals
herbeizuführen, in dem Madame Munuel liegt. Noch besser mit ihr
selbst. Aber das wird wohl bei ihrem Zustand nicht möglich
sein.«
Richeau wußte, worauf Verdon hinaus wollte. Und auch
Macabros wußte es. Madame Genevieve war vielleicht der einzige
Augenzeuge. Sie hatte den Täter gesehen.
»Ich werde hier keine ruhige Kugel schieben«, vernahm
Macabros die Stimme des Kommissars. »Das Mädchen mit der
Rotweinflasche muß ich mir noch mal vornehmen. Vielleicht ist
sie heute morgen zugänglich. Lange genug Zeit, sich
auszuschlafen, hat sie gehabt. Mal sehen, ob sie immer noch bei ihrer
Schauergeschichte bleibt. Aber das nur nebenbei. Der zweite Faktor,
von dem ich sprechen wollte, ist der: der gestrige Tagesablauf dieses
Bollon ist noch immer nicht ganz klar, obwohl wir Hinweise erhalten
haben, auf denen wir aufbauen können. Ins Auge stechend ist die
Tatsache, daß Bollon gestern um die Mittagsstunde in einem
Souvenirladen auffiel, als er nach orientalischen Amuletten und
Gefäßen fragte. Die Dame, die uns gleich heute morgen
anrief, konnte nicht nur eine genaue Beschreibung Bollons geben,
sondern darüberhinaus eine Studie seines Verhaltens. Er sei
nervös und gereizt gewesen und hätte etwas ganz
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