Macabros 016: Geisterheere aus dem Jenseits
überstand. An Lili hing alles. Der
Betrieb mußte laufen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen,
war ihre Devise. Lili blieb hart, und ihr Sohn mußte erst seine
Pflicht erfüllen. Dabei starb er, und das warf sie aus der
Bahn.
Sie trug keine Schuld am Tod ihres Jüngsten, aber sie redete
sich ein, daß es nicht passiert wäre, wenn sie seinem
Drängen nachgegeben hätte. Sie ließ sich diesen
Gedanken nicht ausreden.
Sie fing an zu trinken, qualmte wie ein Schlot und nahm an nichts
mehr Anteil.
Die Frau schlüpfte in eine buntgemusterte Kittelschürze
und zog den Riegel an der Tür zurück.
Frische Meeresluft schlug ihr entgegen, und sie atmete tief
durch.
Sie ging morgens immer früh heraus. Da begegnete ihr niemand.
Sie liebte die verlassenen Gassen zwischen den Zelten, Karussells und
Würstchenständen.
Die Frau mit dem zerknitterten Gesicht und dem schmalen, zahnlosen
Mund ging zum Meer hinunter.
Eine steile Falte stand auf ihrer zerfurchten Stirn, und Lili sah
aus, als würde sie intensiv nachdenken. Die kleinen Augen
befanden sich in stetiger Bewegung. Das Laufen fiel Lili schwer. Der
Alkohol laugte ihre Kräfte aus.
Das Meer spülte an den Strand. Barfuß ging sie durch
den Sand, und das kühle Wasser umspülte ihre Zehen.
Kein Mensch war weit und breit. Eine jungfräuliche Welt! Kein
Motorengeräusch, kein Radio, keine Stimmen…
Mit einem verlorenen Lächeln auf den Lippen lief sie
schwerfällig weiter.
Manchmal blieb sie stehen. Wie ein Glutball hing die Sonne
übergroß am östlichen Firmament.
Die Frau kniff die Augen zusammen.
Sie sah etwas, das nicht so recht zu dieser morgendlichen Stimmung
paßte.
Dünne, dunkle Wolkenfetzen schwebten über dem
Wasserdunst auf sie zu. Die nebelhaften Schemen wirkten wie
Gestalten.
Sie schluckte, und die Angst griff wie eine eisige Hand nach ihrem
Herzen.
Der Himmel kam auf sie herab. Sie schlug um sich und fing
fürchterlich an zu schreien.
Drei, vier, fünf berittene Skelette auf skelettierten Pferden
tauchten vor ihr auf. Sie preschten heran wie im Sturmlauf, direkt
auf sie zu.
Die Attackierte schrie und fing an zu rennen. Aber es war mehr ein
Stolpern. Sie fiel in den nassen Sand und rappelte sich wieder
auf.
Sie kamen von allen Seiten und umringten sie, und schauriges,
höllisches Gelächter klang in ihren Ohren.
Das war der perfekte Wahnsinn! Delirium tremens im letzten
Stadium…
Das Haar hing wirr in ihrer Stirn, ihr Atem ging pfeifend.
Ein dunkler Schatten fiel auf sie.
Dann zischte etwas durch die Luft. Ein Schwerthieb warf sie zu
Boden. Rasende Schmerzen peitschten durch ihren Körper.
Alles begann zu flackern, und die Welt schrie um sie herum wie von
Sinnen.
Lili atmete schwer und merkte, daß irgendwo Blut aus ihrem
Körper lief, vermochte nur nicht zu sagen, wo.
Ihre Augenlider zitterten, und ihre pergamentenen Hände
krallten sich in den Sand.
Todeskampf!
Noch einmal kristallklare Gedanken. Vergangenheit…
Jugend… die Begegnung mit Marcel… die Kinder… der Tod
ihres jüngsten Sohnes… die Trinkerei… Vergessen suchen
und doch nicht finden… die letzte Nacht, gestern… vor ihren
Augen wurde ein Mensch ermordet… von einem Berittenen, der vom
Himmel kam und aus der Hölle stammte… sie wurde Zeuge…
und das kostete sie das Leben… sie hätte nicht darüber
sprechen sollen…
Letzte, verzweifelte Gedanken wie Blitzlichter, die grell ihr Hirn
belasteten.
Die Unheimlichen kreisten sie ein, Totenaugen, tiefe Höhlen.
Keine Pupillen, keine Augäpfel… Knochengesichter… die
Pferde wieherten… Es hörte sich an, als würde das Tor
zur Hölle knarren.
Sie riß die Augen auf. Ein Zittern lief durch ihren
Körper, die Muskeln zuckten unter der welken, trockenen
Haut.
Wie ein Blitz bohrte sich etwas in ihre Brust…
Ein Schwert! Der vorderste höllische Reiter versetzte dem
Opfer den Todesstoß.
Dann preschten sie davon, und die trüben Wolken verschwanden,
die dunklen Schleier in der Luft lösten sich auf, als hätte
es sie nie gegeben.
Klar schien die Sonne, und ihre Strahlen trafen warm auf den toten
Körper. Aber das spürte Lili nicht mehr.
*
Die Jacht war schneeweiß, und unter der Sonne glitt sie
majestätisch die letzten hundert Meter in den großen Hafen
von La Grande Motte.
Björn Hellmark, Pepe und Sophokles, der griechische Seemann,
der in Hellmarks Diensten stand und sich wohl bei diesem jungen und
sympathischen Herrn fühlte, waren verantwortlich für das
Boot und seine Wartung.
Björn
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