Macabros 036: Gruft der bösen Träume
was geschieht. Ich habe meine
ganze Hoffnung auf Sie gesetzt, Mister Lumnick. Als ich den Bericht
las wußte ich, daß Sie der richtige Mann sind.
Enttäuschen Sie mich nicht!«
»Wir müssen gehen, ehe es zu spät ist«,
unterbrach er sie.
»Ist es stärker – als in der letzten
Nacht?«
»Ja. Aber ich weiß nicht, ob es an der Stärke
liegt oder ob ein anderer Stoff in Frage kommt, denn ich jetzt noch
nicht kenne.«
»Das Schicksal dieses Hauses ließt in Ihrer Hand«,
sagte Cynthia O’Donell. »Wenn Sie es nicht schaffen, kommt
es zur Katastrophe. Niemand der hier Anwesenden wird das Grauen
überstehen…«
Cathy Francis lief es eiskalt über den Rücken.
*
Die silhouettengleichen Gestalten hinter der braunen Scheibe
bewegten sich.
Sie näherten sich der Tür…
Schon war die Lauscherin bereit zu fliehen und sich irgendwo in
der Dunkelheit dieses großen, verwinkelten Hauses zu
verstecken, als sie erkannte, daß es nicht nötig war.
Etwas raschelte nämlich, und es klang, als würde ein
Teppich zur Seite gezogen.
Dann knirsche es leise…
Eine Klappe bewegte sich in ihren Scharnieren – eine
Geheimtür?
Cathy Francis tat in diesen Sekunden etwas, was sie verabscheute.
Aber sie wußte keinen anderen Ausweg mehr. Die Londonerin warf
einen Blick durchs Schlüsselloch.
Was sie sah, verschlug ihr den Atem.
Es gab eine Geheimtür im Dielenboden der Küche.
Die Bodenklappe war weit geöffnet, und eine Leiter
führte in den darunter liegenden Keller.
Cynthia O’Donell hielt eine Öllampe in der Rechten und
ging dem Mann, der abwartend in der Mitte der Küche stand,
voran.
Für den Bruchteil eines Augenblicks sah Cathy das Gesicht des
Fremden.
Es war das Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren, das Haar
streng nach hinten gekämmt, Geheimratsecken und hohe Stirn, die
Augenbrauen buschig. Die Brille, die der Fremde trug, war altmodisch.
Eine einfache, braune Hornbrille mit dicken Gläsern.
Die Lippen des Mannes bildeten einen schmalen Strich in dem
angespannten, blassen Gesicht.
Dann verschwand auch er in dem Loch im Boden, und die Dunkelheit
unten nahm ihn auf.
Cathy Francis ließ nicht locker.
Sie war entschlossen, die Angelegenheit weiterzuverfolgen.
Kurzerhand öffnete sie die Küchentür. Die
Küche war nur schwach durch eine herabgedrehte Öllampe
beleuchtet. Das Licht reichte nicht mal aus, um die Schatten aus den
Ecken zu vertreiben.
Auf Zehenspitzen trat Cathy näher.
Ihr Blick fiel auf den großen Küchentisch in der Ecke.
Dort stand ein dunkelrot lackierter Metallkasten, in dem
unzählige Fotos lagen. Bevor der Fremde, den Cynthia
O’Donell mit Mister Lumnick angesprochen hatte, den Raum betrat,
mußte sie sich diese Bilder angeschaut haben.
Ein Teil von ihnen lag auf dem Tisch verstreut.
Neugierig warf Cathy einen Blick auf die Fotografien.
Sie zeigten das Bild eines jungen und schönen Mädchens
mit langem, schwarzem Haar. In ganz jungen Jahren – als Neun-
oder Zehnjährige – trug dieses Mädchen lange,
geflochtene Zöpfe, in die große Schleifen gebunden
waren.
Es war ein ausgesprochen hübsches Kind. Es lachte
fröhlich dem Betrachter auf einem Dreirad entgegen.
Älter geworden – etwa fünfzehn – war sie auf
einem Pony fotografiert. Sie trug die Haare jetzt zu einem
Pferdeschwanz gebunden.
Ihr schönes, ebenmäßiges und ovales Gesicht mit
den mandelförmigen Augen kam dadurch noch besser zur Geltung.
Sie war mit Geschmack gekleidet. Es gab Bilder, die die gleiche
Person noch zu einem späteren Zeitpunkt zeigten. Da war das
Mädchen schon kein Kind mehr, sondern ein richtiges,
liebenswertes Fräulein, das jedem Maler Modell hätte stehen
können.
Sie war etwa neunzehn oder zwanzig Jahre alt, als die Fotoserie
endete.
Noch immer trug sie die Haare als Pferdeschwanz und hatte darin
eine kleine dunkle Samtschleife. Das Gesicht der Jungen Unbekannten
vereinte Schönheit und Klugheit in einem Maß, wie es nur
selten zu finden war.
Es fiel Cathy auf, daß sämtliche Fotos vergilbt waren.
Sie mußten schon sehr alt sein.
Zwanzig, dreißig oder gar vierzig Jahre?
Die Engländerin ging jetzt auf das Bodenloch zu, erblickte in
der Tiefe ein fernes, flackerndes Licht und vernahm die sich
entfernenden Schritte.
Da stieg sie die Leiter hinunter.
Modrige Luft und Kälte schlugen ihr entgegen.
Die junge Malerin tauchte in die Dunkelheit ein und folgte dem
winzigen Licht, das sich plötzlich nicht mehr fortbewegte.
Wie geisterhaft beleuchtete Schemen wirkten
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