Macabros 038: Mirakel - Phantom aus dem All
stieß die Frau hervor. Ihre Stimme klang
schrill, ihr Gesicht war kreidebleich. Kalt wie Eiskristalle
glitzerten ihre Augen. »Du bist der Teufel.«
»Mutti!« rief das Kind mit aufgeregter Stimme. »Er
hat mich gerettet! Er kann fliegen! Er kann richtig
fliegen!«
Die Frau fauchte wie eine Katze und stieß mit ihren langen,
schlanken Fingern nach Mirakel.
Wirr hing das Haar in ihr Gesicht. Sie machte einen verzweifelten,
einen irren Eindruck.
Mirakel begriff das Drama, das sich hier abgespielt hatte.
Die Frau hatte den Verstand verloren, war mit ihrer Tochter auf
das Flachdach gestiegen und versetzte ihr den tödlichen
Stoß in die Tiefe. Vielleicht hatte sie ebenfalls nachspringen
wollen, aber durch Mirakels Eingreifen war sie davon abgehalten
worden.
Mirakel ließ das Kind los, das mit ausgestreckten Armen zu
seiner Mutter lief, plötzlich stutzte und mit weinerlicher
Stimme sagte: »Mutti? Was ist denn los mit dir? Du bist so
anders. Warum siehst du mich so komisch an? Warum ist dein Gesicht so
– ängstlich?«
Das etwa siebenjährige Mädchen wich angstvoll vor ihr
zurück.
Mirakel sagte: »Was ist mit deiner Mutter, Kleine? Seit wann
ist sie so anders?«
»Seit eben. Vorhin – war sie nicht so. Sie ging mit mir
auf das Dach und wollte mir die Sterne zeigen. Ich wollte mal den
Sternen ganz nahe sein. Ich habe es mir schon lange gewünscht.
Und ich hatte auch versprochen, mich fest an ihrer Hand zu halten und
dem Dachrand nicht zu nahe zu kommen. Aber dann ist sie selbst mit
mir dorthin gegangen – und sie hat mich
hinuntergestoßen!«
Die Siebenjährige weinte. Sie verstand nichts von dem, was
sich abgespielt hatte. Mirakel verstand es ebensowenig.
Von einer Sekunde zur anderen mußte die Frau von geistiger
Umnachtung befallen worden sein.
Sie mußte in ein Krankenhaus, zu einem Arzt… Und noch
während Mirakel den Entschluß faßte, sie kurzerhand
ins nächste Hospital zu bringen, ging mit der Frau eine
Verwandlung vor sich.
Der starre Blick in ihren Augen ging verloren. Ein warmes Licht
spiegelte sich in ihren Pupillen.
Sie erkannte ihre Tochter wieder. »Sonja!« rief sie
entsetzt, sprang nach vorn, riß das Kind in ihre Arme und
starrte auf Mirakel. »Wer sind Sie? Wo kommen Sie her? Was
wollen Sie hier?«
Die Frau musterte ihn. Ihre Reaktionen waren plötzlich wieder
ganz normal. Sie wußte nichts von dem, was sich hier wirklich
abgespielt hatte. Sie hatte alles vergessen.
Mirakel, der aussah wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt,
war jetzt der Gegner, den sie fürchtete.
»Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Sonja aber war es, die ihre Zweifel vollends zerstreute. Sie
erklärte, was passiert war – und die Zuhörende konnte
es nicht fassen.
Mirakel blieb nichts anderes übrig, als einige
Erklärungen abzugeben. Es klang zu unwahrscheinlich, was er zu
sagen hatte, aber der Frau blieb nichts anderes übrig, als es zu
glauben, zumal die Siebenjährige eifrig alles unterstrich.
»Ich bin Margarete Schaller und Ihnen zu großem Dank
verpflichtet.«
»Sagen Sie mir bitte eins: Was haben Sie empfunden, als Sie
es taten?«
»Ich muß den Verstand verloren haben. Ich war einige
Sekunden lang nicht bei vollem Bewußtsein. Es gab keinen Grund,
Sonja in den Tod zu stoßen, keinen Grund, weshalb ich aus dem
Leben scheiden wollte. Und doch war ich dazu entschlossen, wild
entschlossen sogar. Es muß mit dem Licht zusammenhängen
mit dem Licht von den Sternen.«
Sie hob den Blick.
Klar und wolkenlos spannte sich der Himmel über der
Mainmetropole. Tausende von Sternen glitzerten. Und doch war dieser
Himmel anders als in den Nächten davor.
Ein mattes, graues Licht lag wie ein Schleier über einem Teil
der Milchstraße.
Margarete Schaller und Mirakel hielten den Atem an.
Sie sahen es beide.
Das graue Licht, das den Glanz der Sterne abdunkelte, hatte die
vage Form eines gigantischen menschlichen Körpers.
Der Eindruck währte nur einen Atemzug lang. Dann war er
verschwunden, und Mirakel wußte, daß sich hier ein
ähnlicher Vorfall ereignet hatte wie in Valley Forest, als Garry
Brown dem Licht aus dem Kosmos begegnet war.
*
Über die Eisenleiter stiegen sie in den kahlen Korridor neben
dem Maschinenhaus des Lifts.
Margarete Schaller war eine der wenigen Hausbewohnerinnen. Ihr
Mann war Immobilienhändler, und sie hatten sich hier in der
Etage ein Büro eingerichtet, der eine großzügige
Wohnung angegliedert war.
An der Tür verabschiedete Mirakel sich.
»Wenn Sie über
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