Macabros 050: Rha-Ta-N'mys Leichenschlucht
nicht in
dem Maß erfüllt, das den Ruf nicht annimmt. Dieses Opfer
sind Sie, Octlan!«
Die Worte waren kaum noch zu verstehen. Die Stimme des alten
Mannes war zu einem armseligen Flüstern herabgesunken.
Octlan merkte, daß er zitterte. Ihm fehlten die Worte, um
seine Gefühle zu bestimmen, um die Situation zu beschreiben, in
die er geraten war.
Dies alles war ein grausames Spiel. Jemand benutzte ihn wie einen
Ball.
Er war jetzt überzeugt davon, daß durch den Brief eine
Art Hypnose auf ihn ausgeübt worden war. Hypnose auch
mußte sein, daß er Tür und Fenster verschlossen sah.
Aber in Wirklichkeit mußten sie offen sein. Ein Fenster
mußte sich doch einschlagen lassen!
Er wandte sich ruckartig ab. Das Ganze kam ihm vor wie ein
Trauerspiel.
Er warf einen letzten Blick auf den Alten.
Dieser schwache Mann wollte ihn töten?
Das, was der alles von sich gegeben hatte, zeigte intensiv genug,
daß er Octlan, einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen
war.
Er sah das Zucken, das in diesem Moment über das
wächserne Gesicht des Todkranken lief. Die Augenlider
zitterten.
Ronald Martin bewegte die Lippen. Er schien noch etwas sagen zu
wollen, aber seine Kräfte reichten nicht mehr aus.
Ein schmerzhafter Ausdruck zeigte sich auf seinem Gesicht.
Draußen tobte der Sturm. Das Heulen und Pfeifen schwoll zu
einem Höhepunkt an, und die Wände der Hütte erbebten,
als ein mächtiger Donnerschlag erklang. Die Scheiben klirrten
– die Tür flog auf und knallte mit einem
ohrenbetäubenden Schlag gegen die Wand…
Der Weg nach draußen war frei!
Nichts wie raus aus diesem Tollhaus!
Octlan warf sich herum und jagte dem Ausgang entgegen. Ein
gewaltiger Windstoß traf ihn, warf ihn zurück und zu
Boden.
Etwas legte sich wie eine kalte Hand auf seine Stirn.
Octlan erschauerte, und auf seinem Gesicht zeigte sich in der
nämlichen Sekunde der gleiche Ausdruck wie auf dem Gesicht des
Sterbenden!
»Es hat keinen Sinn zu fliehen!« vernahm er die Stimme
des alten Mannes. Die Worte kamen nicht von außerhalb –
sie erklangen in ihm! »Ich will weiterleben, Octlan. Und Sie
werden an meiner Stelle sterben!«
Joe Octlan wälzte sich am Boden, als kämpfe er gegen
eine unsichtbare Macht. Er schlug um sich und fühlte, daß
etwas nach ihm griff, aber die Berührung war nicht
körperlicher Art.
»Wir werden unsere Körper tauschen, das ist alles. Warum
wehren Sie sich denn nur so verzweifelt? Wenn der Tod kommt, dann
kann man ihm nicht entgehen – im Normalfall.«
Die Stimme erfüllte ihn bis in die letzte Faser des Seins. Er
merkte, wie sich irgend etwas aus ihm löste, wie er schwebte und
gleichzeitig einen ungeheuren Druck auszuhalten hatte, als ob
Zentnergewichte auf seinem Körper lagerten.
Sein Blickfeld veränderte sich. Eben noch sah er die
Regalwand vollgepfropft mit alten, modrig riechenden Büchern
schräg von unten – jetzt sah er sie mit einem Mal direkt
vor sich! Wie kam das zustande?
Ein Stöhnen entrann seinen Lippen, als er erkannte, daß
er nicht mehr auf dem Boden lag und von dort aus Richtung Wand
blickte, sondern sich auf dem Krankenlager des Alten befand!
Aber das war ja gar nicht sein Körper, der hier im Bett lag!
Es war Ronald Martins schwacher, alter, ausgemergelter Körper,
und er, Joe Octlan, befand sich darin!
*
Er riß die Augen auf. Aber es bereitete ihm Mühe.
Er lag kraftlos auf dem Bett und nahm aus matten Augen wahr, wie
ein Mann sich vom Boden erhob.
Es war sein Körper, sein Körper als Joe Octlan, aber er
war nicht mehr in diesem Leib zu Hause!
Grauen schnürte ihm die Kehle zu. Er hätte gern etwas
gesagt, aber er merkte, wie ihn seine Kräfte verließen,
wie sie einfach vergingen, als ob Sand durch Finger rinne.
»Der Tausch ist perfekt!« vernahm er klar und kraftvoll
seine eigene Stimme, und es kam ihm vor, als lausche er einer
Bandaufnahme, die er besprochen hatte. »Die zweite Stufe meines
Daseins im Dienst der göttlichen Rha-Ta-N’my, der
zukünftigen Herrscherin des Universums, hat damit begonnen
– Joe Octlan! Oder soll ich lieber sagen: Ronald Martin? Denn du
bist jetzt Ronald Martin – und ich bin Joe Octlan. An diese
Rolle werde ich mich sicher schnell gewöhnen. Dein Geist, Joe
Octlan, stirbt mit meinem Körper. Du kannst ihn nicht aus dem
Gefängnis herauslösen, in das ich ihn statt meiner versetzt
habe. Dein Körper aber, Joe Octlan, lebt mit meinem Geist
weiter. Ist das nicht wunderbar? Im Körper Octlans aber wird
Ronald Martins Geist
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