Macabros 072: Nh'or Thruus Unheil-Schläfer
Khrögos wieder heranstürmen.
Der Dykte blieb starr stehen. Erst im letzten Moment ließ er
sich fallen.
Khrögos konnte den Schwung seines Angriffs nicht mehr
rechtzeitig abfangen. Er stürzte über Mirakels
gekrümmten Rücken, rutschte über die Kante und
verschwand aufschreiend in der Finsternis des Schlundes.
Gewonnen, dachte Mirakel wie betäubt.
Die Mauern um ihn herum verblaßten. Ein Seufzen
ertönte. Die Burg war plötzlich verschwunden.
Der Dykte stand einsam auf dem kahlen Gipfel des Berges. Scharfer
Wind pfiff an ihm vorbei.
Das Heer der Fledermäuse war nicht mehr zu sehen. Und weit
hinten, dort, wo sich das Meer der Millionen Traumstationen
ausbreitete, erlosch das unheilbringende Leuchten.
Fast vermeinte der Dykte die Woge der grenzenlosen Erleichterung
zu fühlen, die von den erlösten Djans in den
Glaskäfigen ausging.
Die Zeit der Unheil-Schläfer war zu Ende. Diesmal
endgültig!
Nh’or Thruu, der Irre von Zoor, hatte eine Niederlage
erlitten – und ein ganzes Volk die Freiheit wiedererlangt.
Ein Zerren durchlief Mirakels Körper.
Er sträubte sich nicht dagegen.
Mit Khrögos’ Tod erlosch auch der Bann, der ihn in
dieser Welt festhielt.
Der Dämonendiener hatte die Wahrheit gesprochen. Sein Ende
bedeutete gleichzeitig Mirakies Rückkehr auf die Erde…
Das Zerren wurde stärker.
Und dann erfolgte der Sprung…
*
Die Erde!
Mirakel taumelte.
Der Himmel über ihm war blau und von Wolken bedeckt. Der Wind
roch nach Blütenstaub.
Mirakel blickte sich um.
Der Wald unter ihm war unverkennbar irdisch. Im Osten erkannte er
die Skyline einer großen Stadt. Ein Flugzeug senkte sich
scheinbar auf die Hochhäuser.
Dort ein breiter Fluß.
Der Main…
Frankfurt!
Mirakel war zu Hause.
Seine Odyssee durch den Mikrokosmos lag hinter ihm.
In tiefen Zügen atmete er die frische Luft ein und
genoß ihren vertrauten Geruch.
Vor seinem geistigen Auge passierten noch mal die Dinge Revue, die
er erlebt hatte wie in einem Rausch.
Wie ein Traum kam ihm plötzlich alles vor.
Die Begegnung mit Khrögos, die Erkenntnis, daß
Nh’or Thruu zum ersten Mal intensiv in sein Leben eingegriffen
hatte – und die Erscheinung der unheimlichen
Dämonenschlange aus dem Reich der Finsternis.
Sie war in seine Welt, in seine Zeit gekommen.
Zufall? Ein Zwischenfall? Oder eine geplante Aktion, die mit einem
wahrhaft dramatischen Auftakt mitten in der Stadt, in der er lebte,
begonnen hatte?
Die Schlange – war sie eventuell ein Traumbild der
Unheil-Schläfer gewesen, das Eingang gefunden hatte in die
»normale« Dimension, in den »normalen«
Kosmos?
Oder war die Schlange ganz und gar Khrögos selbst gewesen?
Der schlimme Feind, der Diener eines noch Schlimmeren, der es
geschickt verstand sich zu verbergen, hatte seine
gestaltwandlerischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt.
Die mittelbar und unmittelbar in die Ereignisse mit hineingezogen
worden waren, würden sich wohl bald fragen, ob ihnen ihre Sinne
an jenem späten Nachmittag nicht nur einen bösen Streich
gespielt hatten.
Für ihn, Morell alias Mirakel, würde sich diese Frage
nicht stellen. Er wußte, daß sich zum ersten Mal in
seinem Dyktendasein Feinde zu Wort gemeldet hatten, die
möglicherweise bestimmend gewesen waren beim Untergang eines
Volkes, das in absoluter Harmonie mit allem Leben, mit dem Universum
gestanden hatte. Dieses Volk war ein Teil seines Daseins. Er war
sowohl Dykte als auch Mensch. Spurlos verlor sich die Fährte der
großen Rasse irgendwo im Universum – vielleicht ganz und
gar irgendwo im Labyrinth der mikroskopisch kleinen Welten…
Wer wußte dies zu sagen?
Man hatte ihn als Dykten erkannt, weil man dort von den Dykten
wußte.
In Vergangenheit und Zukunft schien es ein Geheimnis um sie zu
geben, das er nicht mal in Umrissen ahnte…
Er dachte auch an die Djans. Besonders an Meryna.
Er wußte nicht, was aus ihnen geworden war, aber er
wünschte ihnen für den Neubeginn alles Glück der
Welt.
Vielleicht würde er Meryna mal wiedersehen…
Vielleicht…
Aber vorher gab es viel zu tun. Noch existierte das
Dämonenreich. Noch bedrohte es die Menschen.
Und trotz der erlittenen Niederlage verfügten die
Dämonen über eine gewaltige Macht.
Der Dykte straffte sich.
Das Bild der drei Eichen erschien vor seinen Augen.
Es wurde Zeit, den Kristall aufzuladen. Bald, so wußte
Mirakel, würde er ihn wieder benötigen…
ENDE
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