Macabros 075: Ustur - In den Ketten des Unheimlichen
bizarr geformte
Flügel, die aus starkem, gegerbtem Leder zu bestehen schienen.
Aber sie waren Teile seines Körpers und nicht aufgeschnallt.
Das Gesicht war dem unsichtbaren Fotografen voll zugewandt.
Deutlich zu sehen war das kantige, schmerzhaft gezeichnete
Antlitz, das schwarze Haar, das bis zum Hals reichte und im Wind
flatterte. Nicht minder auffallend waren die zwei dolchartigen
Eckzähne, die links und rechts aus den Mundwinkeln ragten und
fast die Kinnspitze berührten.
»Wer ist das?« fragte Koster mit belegter Stimme.
»Keine Ahnung. So hat Tom ihn gesehen. Es ist kaum
anzunehmen, daß es sich um ein Phantasiegebilde handelt. Dieser
Mensch – existiert wirklich! Ich habe in der Zwischenzeit
mehrere Male jenen Felsen, den Tom genau lokalisieren konnte,
abgesucht. Tom hatte die Gabe, Bilder zu sehen von Dingen, die sich
in der Zukunft abspielen. Mindestens einmal täglich fahre ich
hinaus zu der Felseninsel und sehe sie mir an. Der Geflügelte
ist bisher nicht eingetroffen…«
»Wenn dies wirklich ein Mensch ist - weshalb sieht er so aus
und wo kommt er her?« Koster redete mechanisch, ohne daß
ihm seine Worte selbst bewußt wurden.
»Tom hatte eine Erklärung dafür. Und ich glaube,
daß sie der Wahrheit sehr nahe kommt. Der Geflügelte
gelangt aus einer anderen Welt zu uns, aus einem Paralleluniversum,
einer anderen Dimension… Was will er hier und warum ist er
gefesselt?«
»Gefesselt?«
Koster richtete seinen Blick erneut auf das Foto, und erst jetzt
sah er, daß der Geflügelte mit dem muskulösen
Körper außer den breiten Spangen noch Armbänder aus
Eisen trug, die an schweren Kettengliedern hingen. Das
äußerste Ende der Kette war an gewaltigen Haken, die im
Fels steckten, angebracht.
»Und nun konzentrieren Sie sich, Koster! Sie haben alle
Unterlagen, die Sie benötigen«, verlangte Eglund mit
eisiger Stimme. »Ich habe mehrere Kameras in Ihrer unmittelbaren
Nähe aufgestellt. Zeigen Sie mal, was Sie können? Ich
weiß, daß ich nicht von Ihnen verlangen kann,
herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt dieser seltsame, unheimlich
wirkende Mensch mit Flügeln, die aussehen, als wären sie
aus der Haut einer Echse gemacht, auf dem felsigen Eiland sein wird.
Ich kann auch nicht von Ihnen verlangen, daß Sie mir den
Zeitpunkt sagen… oder doch? Vielleicht kann ich etwas daraus
erkennen, wenn ich erfahre, was danach sein wird. Werfen Sie einen
Blick in die Zukunft, Koster – und lassen Sie mich die Bilder
sehen!«
Nur schwach war das Gefühl des Widerstandes, der in Ullrich
Koster keimte.
Der Mann schloß die Augen und sah im Geist die nahe Insel,
wo der verstorbene Tom jenes Fabelwesen registriert hatte.
Mit kühlem Blick musterte Dr. Eglund sein Gegenüber.
Kosters Gesicht war einzige gespannte Konzentration.
Es schien, als wäre jegliches Leben aus seinem Körper
gewichen. Das Medium atmete kaum.
Drei Minuten später nickte Koster plötzlich. »Ich
glaube, es ist soweit… es hat geklappt…« sagte er wie
abwesend. Er schwamm in einem Gefühl von Verwirrung und
Ratlosigkeit. Es war ein seltsames Schweben, als hätte er den
Boden unter den Füßen verloren. Er spürte
überhaupt nicht seinen Körper und hatte das Gefühl,
nur noch aus reinem Geist zu bestehen. Er fühlte sich angenehm
und ruhig, und der Haß Eglund gegenüber war wie
weggewischt.
Müde und schwerfällig öffnete Koster die Augen.
Eglund sprang sofort auf und nahm die Kameras vom Regal hinter
sich. Es waren drei sehr gute Sofortbildkameras, von denen eine sogar
Bilder im Großformat lieferte.
Dr. Eglund konnte eine gewisse Unruhe nicht verbergen. Schnell zog
er die – wie er hoffte – belichteten Filmstreifen heraus.
Langsam begann sich die Oberfläche des Spezialpapiers zu
verfärben.
Was würden die Gedankenfotografien Kosters bringen?
Eine Minute später wußte er es.
Alle drei Aufnahmen zeigten das gleiche Bild, aus dem gleichen
Blickwinkel. Es sah aus, als hätte Ullrich Koster schräg
über der Felseninsel geschwebt und die Aufnahmen aus der
Vogelperspektive gemacht.
Das Motiv war ganz anders. Der Geflügelte – war
verschwunden! Zurückgeblieben waren die gewaltigen
Kettenglieder, die mitten durchgerissen waren.
Auf dem Felsen lag eine Gestalt flach auf dem Bauch, Arme und
Beine von sich gestreckt. Sie hatte blondes Haar. Die Augen waren
gebrochen. Der Tote trug zerfetzte Kleider.
Der Mann, der da mit zerschmetterten Gliedern lag, war niemand
anders als - er selbst!
*
Die Augen des
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