Macabros 100: Rha-Ta-N'mys Schreckenszentrum
beleuchteten Raum, der spartanisch eingerichtet
war.
Der Fußboden schien grob gepflastert, soweit sie es
wahrnehmen konnte. In der Ecke stand ein Schrank, der sie an einen
klobigen Holzkasten erinnerte. Eine dunkelbraune Holztür zum
angrenzenden Raum wurde geöffnet. Eine Frau mit weißer,
rüschenbesetzter Schürze und einer weißen Haube
tauchte auf.
Im Zimmer waren damit nun drei Personen anwesend. Es handelte sich
um eine sehr alte Frau, deren Rücken stark gebeugt war, einen
Mann mit stolzer, aufrechter Haltung. Er trug einen schwarzen, dicken
Lippenbart und wirkte sehr streng.
Die Frau mit der weißen Schürze und der Haube wiegte
bedenklich den Kopf. Sie wirkte ernst und schien mit irgend etwas
nicht zufrieden.
Dann gab sie dem Mann mit heftiger Gestik zu verstehen, daß
er sich beeilen sollte.
Auch die alte, gebückte Frau wandte sich um.
Trotz ihrer Jahre und der nach vorn gebeugten Haltung bewegte sie
sich noch erstaunlich schnell.
Sie zog die Schubläden an dem alten Schrank auf und nahm
flink einige Tücher heraus.
Sandra Gerhusen hatte plötzlich das Wissen.
In dem handtuchschmalen Haus fand eine Entbindung statt. Die alte
Frau – das war die Mutter der Gebärenden, der Mann deren
Gatte. Die Frau mit der Haube und der weißen Schürze
– die Hebamme…
Sandra Gerhusen wußte, als sie diese Szene sah, mit einem
Mal noch mehr.
Das Kind, das geboren wurde, würde nicht am Leben bleiben.
Auch die Frau würde sterben.
Noch ehe der Mann aus der Seitentür verschwinden konnte, um
aus der Küche noch eine Schüssel mit heißem Wasser zu
holen, wurde die Tür vom dunklen Flur her aufgestoßen.
Ein Mädchen im knöchellangen Leinennachthemd stand auf
der Schwelle. Das Kind hatte feuerrote Haare, die im
ausgekämmten Zustand weit über seine Schultern ragten.
Sein Gesicht war schmal und sehr schön. Die großen
Augen blickten fragend auf den Vater, der förmlich
zurückprallte, als das Mädchen unerwartet vor ihm
stand.
Es hatte in dieser Nacht etwas gehört und die Aufregung
gespürt, die im Haus herrschte. Und es war aus seiner
Schlafkammer gekommen, um zu sehen, was los war.
Aus dem angrenzenden Raum, dessen Tür noch offenstand und in
den die Hebamme gerade zurückging, hallte ein gellender
Schrei.
Die Hebamme stürzte in das Schlafzimmer, der Mann wirbelte
herum, war blaß, und das Mädchen mit dem feuerroten Haar
und dem Gesicht eines Engels begann wie von Sinnen zu
schreien…
Sandra Gerhusen, die draußen vor dem Fenster stand, gab ein
Stöhnen von sich.
Ihr war, als würde man ihre Seele sezieren.
Diese Szene kannte sie. Alles, was in jener furchtbaren Nacht
passiert war, kannte sie.
Denn das Mädchen in der Tür war sie selbst!
*
Da konnte sie nicht anders.
Sie warf sich herum und begann zu laufen. Sie rannte, als
würden Furien hinter ihr herjagen.
Sandra Gerhusen blickte nicht nach links, nicht nach rechts. Sie
stürmte auf der holprigen nächtlichen Dorfstraße
immer geradeaus. Die schmale Gasse wurde enger, spitzer – und
die Dunkelheit hüllte sie ein wie ein Mantel.
Und am Ende der Gasse fing alles von vorn an…
Es war wie in einem Alptraum, in dem man vergebens versuchte,
wegzurennen. Man trat auf der Stelle.
Dabei merkte Sandra, daß sie lief, daß ihr die
Füße schmerzten und die engbrüstigen, alten
Häuser zu beiden Seiten wie Schemen an ihr
vorüberhuschten.
Und da lag das Dorf wieder vor ihr. Die gleiche Gasse, das
gleiche, düstere Haus am Ortseingang, das sie nur aus
respektvoller Ferne zu betrachten wagte.
Wie konnte es sein, daß die gleiche Gasse, die gleichen
Häuser – noch mal begannen, als wären die Dörfer
hintereinander aufgereiht wie Perlen an einer Schnur?
So etwas gab es doch nicht!
Es mußte nur ein Traum sein…
Wie sonst wäre es möglich, daß sie sich als
kleines Mädchen sah. Aber dieses kleine, siebenjährige
Mädchen war nicht die in Köln geborene und aufgewachsene
Sandra Gerhusen. Vor fünfzehn Jahren, als sie sieben war, hatte
sie ganz andere Eltern gehabt, die Wohnung sah anders aus, damals war
kein Kind geboren worden…
Und doch identifizierte sie sich mit diesem rothaarigen
Mädchen und erinnerte sich genau, was sie in jener Nacht
gedacht, gefühlt und erlebt hatte, als man ihre Mutter aus dem
Haus trug. Tot…
Das aber lag in einem anderen Jahrhundert! Sogar die Jahreszahl
kam ihr wieder in den Sinn.
»Vierzehnhundert…
vierzehnhundertdreiundsiebzig…«, murmelte sie.
Da hatte sie schon mal gelebt. Sie sah
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