Macabros 109: Vontox - Der Magier aus Lemuria
schuf ständig neue Formen.
Die Stille umgab sie wie eine Glocke, die sie hermetisch von der
Außenwelt abschloß.
Lorette Grande war allein mit dem Toten.
Steif und reglos wie eine Puppe saß sie auf dem Stuhl. Ihre
Gedanken drehten sich im Kreis.
Sie atmete langsam und schwach und verdrängte die
Müdigkeit, die gierig Besitz von ihr ergriff, je länger die
Wache dauerte.
Von außen drang kein Laut herein. Dort im Park lag alles in
tiefster Finsternis. Das Wohngebäude war zu weit entfernt, als
daß man die Lichter von dort hätte wahrnehmen
können.
Stunde um Stunde verrann, langsam und zäh wie Blei. Doch dies
wurde ihr nicht bewußt.
Jegliches Leben schien auch aus ihrem Körper gewichen.
Sie wußte nicht, wie es weitergehen sollte ohne Henri.
Sie sah keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Alles war öde und
leer, belanglos…
Die Kerzen brannten herab. Die erste erlosch.
Lorette Grande bemerkte es nicht.
In ihrer Einsamkeit eingeschlossen, allein mit dem Toten in der
düsteren Kapelle, in der nur die Schatten ein
eigenständiges Leben zu führen schienen, wurde sie selbst
zu einem Gegenstand in der Umgebung.
Die niederbrennenden Kerzen warfen längere Schatten und
ließen die unheimlich wirkende Umgebung noch gespenstischer
erscheinen.
Zwischen den Schatten dann wieder helle Lichtreflexe an Decke und
Wanden – und eine helle, fast kreisrunde Fläche am
Fenster.
Als ob ein Gesicht…
Es war eines!
Lorette Grande wurde schlagartig aus ihrer dumpfen Stimmung
gerissen.
Draußen vor dem Fenster stand jemand und starrte zu ihr
herein!
In dem Moment, als sie das Gesicht bemerkte, verschwand
es…
*
Einen Moment saß sie noch da wie geschockt.
Fast hätte sie geschrien. Aber sie besann sich im letzten
Augenblick darauf, wo sie sich befand und bekam ihre überreizten
Nerven erstaunlich schnell unter Kontrolle.
Sie schraubte sich in die Höhe. Zu einer schnellen Bewegung
war sie nicht fähig. Ihr schien es, als würde sie an
unsichtbaren Fäden hochgezogen.
Ihre Füße verfingen sich in einem Blumengebinde, und
sie strauchelte. Lorette Grande konnte eben den Sturz noch
verhindern. Durch die ruckartige Fußbewegung wurden einigen
Blüten die Köpfe abgerissen.
Die Frau starrte noch immer wie gebannt zum Fenster, an dem sie
das Gesicht gesehen hatte. Ein fremdes Gesicht, eines, das in ihrem
Verwandten- und Freundeskreis nicht vorkam!
Lorette stieß die schwere Holztür auf und trat ins
Freie.
Es war kurz vor Mitternacht, der Himmel noch immer wolkenlos und
sternenklar.
Bäume und Büsche ringsum erschienen als
scharfgezeichnete Silhouetten.
Lorette’ wandte sich sofort nach rechts, als sie sah,
daß der Rasen menschenleer war, und auch auf dem Pfad, der
durch den Park führte, niemand lief.
Hielt der Fremde sich noch im Schatten neben der Kapelle auf? Wer
war er und was wollte er?
»Hallo?« rief sie mit gedämpfter Stimme. »Ist
da jemand?«
Keine Antwort erfolgte.
Der Platz neben der Mauer war leer.
Dennoch ging Lorette Grande in die Dunkelheit hinein.
Nur wenige Schritte von ihr entfernt ragte der Anbau aus dem
Boden, in dem die einige Stufen tiefer gelegene Familiengruft der
Grandes untergebracht war.
Der Anbau war fensterlos und nur durch die Kapelle zu
erreichen.
Lorette Grande schritt die dunkle Mauer ab, an der wilder Wein
emporwuchs.
Die Frau ging um den Anbau herum und erreichte die
gegenüberliegende Wandseite, um die Kapelle zu umrunden und
nachzusehen, wer sich zu später Stunde auf dem Anwesen
herumtrieb.
Eines irritierte sie.
Es war unmöglich, das Grande-Anwesen unbemerkt zu betreten.
Tore und die hohe Mauer um das Château Pasteur waren durch eine
elektronische Alarmanlage gesichert. Dies war auch heute nicht
vergessen worden. Wenn jemand ohne Anmeldung gekommen war –
hätte die Alarmanlage anspringen müssen!
Demnach war es doch kein fremdes Gesicht gewesen, das sie gesehen
hatte. Hatte ein Besucher sie beobachtet? Sie konnte sich nicht
vorstellen, wer so pietätlos sein könnte und…
Da hörte sie das Knacken eines Zweiges.
Das Geräusch hallte wie ein Pistolenschuß durch die
nächtliche Stille und ereignete sich direkt hinter ihr.
Lorette Grandes Nackenhaare sträubten sich.
Sie wußte, daß jemand hinter ihr stand – und warf
mit leisem Aufschrei den Kopf herum…
*
»Erschrecken Sie nicht!« sagte die Stimme sofort.
»Das war nicht meine Absicht.«
Ein Fremder stand vor ihr, untersetzt, dunkelhaarig, und sprach
recht gut französisch,
Weitere Kostenlose Bücher