Macabros 119: Flieh, wenn der Schattenmann kommt
faul, da
kann einer sagen, was er will. Oder wir beide sind reif für die
Irrenanstalt.« Der kleine Dicke machte seine Androhung wahr. Er
kontrollierte das Fahrzeug gründlich. Als er unter die vorderen
Kotflügel sah, meinte Hellmark scherzhaft: »Suchen Sie die
ausklappbaren Flügel?«
Der Dicke fuhr zusammen wie unter einem Peitschenschlag. »Wie
kommen Sie gerade darauf?«
»War nur so ein Gedanke von mir«, antwortete Björn,
der sich gut vorstellen konnte, was jetzt hinter der Stirn des
kleinen schwitzenden Mannes vorging.
Sein Kollege prüfte betont langsam Hellmarks Fahrerlizenz und
Patricks Papiere, bis es diesem zu dumm wurde. »Ich habe es
eilig«, beschwerte sich der Verleger, »werde zu einer
wichtigen Besprechung erwartet. Für den Fall, daß ich zu
spät komme, mache ich Sie verantwortlich.«
Da gaben die beiden Sergeants es auf.
Hellmark und Patrick erhielten ihre Papiere zurück, die
Polizisten tippten grüßend an ihre Mützen und
wünschten gute Fahrt.
Gleich darauf fuhr Björn Hellmark Richtung Greenwich Village
weiter.
Er passierte die Ecke der 7. Avenue und der 11. Street. Dort stand
das St. Vincent’s Hospital. Keiner von ihnen ahnte, daß
darin ein Mann um sein Leben kämpfte – um noch mehr! Mit
einem Schicksal, das auch den Herrn von Marlos betraf…
*
Shawn, der Rabe, verhielt sich still.
»Hallo?« tönte die sanfte Stimme der Zauberin durch
die Nacht. »Bist du es, Shawn?« Sie kam zwei Schritte
zurück und blickte sich um. »Denke an das, was ich dir
gesagt habe… es ist nicht schön, ein Stein zu
sein.«
Der Verwunschene verbarg sich im Schatten zwischen zwei armdicken
Ästen und unter einem dichten Blätterdach. Caliko
mußte schon mit dem Teufel im Bund stehen, wenn sie ihn hier
entdeckte. Aber dieser Vergleich hinkte. Natürlich stand sie mit
dem Teufel auf gutem Fuß…
Trotzdem fand sie ihn nicht.
Sie lachte leise. »Natürlich bist du nicht in der
Nähe… du bist schön brav und folgsam, wie sich das
gehört«, stellte sie im Selbstgespräch fest. »Ich
weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann.«
Shawns Herz raste. Er verbarg den Kopf zwischen den Flügeln
und zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub.
Das war knapp gewesen.
Caliko legte die letzten Schritte zurück. Sie deponierte in
der Nähe eines uralten gewaltigen Baumstamms ihren
Schlangenstab, legte dann ihre Kleider ab. Der zarte, seidige Stoff
raschelte, als sie sich daraus hervorschälte.
Nackt stand sie im Silberlicht des Vollmondes und reckte ihm die
Arme entgegen, als wolle sie ihn ergreifen.
Ihr rotes offenes Haar lag sanft gewellt auf ihren makellos
weißen Schultern. Ihr Körper erinnerte an eine
Marmorstatue, die ein Künstler in einer begnadeten Stunde
geschaffen und die ein Zauberspruch schließlich zum Leben
erweckt und mit einer Seele erfüllt hatte.
Caliko war schön wie eine Göttin, als sie mit sanft
wiegendem Schritt in das seichte Wasser der Bucht hinausging.
Still lag das Meer vor ihr, als wäre es ein riesiges,
formloses Geschöpf, das den Atem anhielt.
Leise plätscherte das Wasser um ihre Waden. Das weiße
Mondlicht badete ihre Haut in faszinierend unwirklichem
Silberschein.
Shawn hatte sie nie so schön gesehen. Die Anmut ihrer
Schönheit und ihrer Bewegungen überwältigte ihn.
Das Wasser wurde so tief, daß Caliko keinen Grund mehr unter
ihren Füßen fand. Sie ließ sich in das Naß
gleiten und schwamm dann mit einer Hingabe, zu der nur jemand
fähig ist, der sich frei und unbeobachtet weiß.
War das der Grund, weshalb sie ihm untersagte, niemals
mitzukommen, wenn der Vollmond schien? In jenen Nächten traf sie
sich auch nicht mit ihren schrecklichen Freunden aus der Tiefe des
Meeres und der Schatten.
War sie in Wirklichkeit gar nicht so herrschsüchtig, so
grausam und gemein, wie sie sich gab? War sie in Wirklichkeit eine
schwache, bedauernswerte Person, die selbst ein schweres Schicksal zu
tragen hatte und die sich ihre Schwäche nicht anmerken lassen
durfte? War sie vielleicht selbst – verzaubert?
Diese Gedanken erfüllten ihn plötzlich, und er begann
die schöne, begehrenswerte Caliko in einem ganz anderen Licht zu
sehen.
Plötzlich war er überzeugt davon, daß es richtig
gewesen war, ihre Anordnung zu übertreten und sich trotz der
gefährlichen Warnung nicht’ nach ihnen zu richten.
Shawn wußte, daß er in dieser Nacht dem Geheimnis um
Caliko einen bedeutsamen Schritt näherkommen würde. Nicht
nur ihrem Schicksal – vielleicht auch dem
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