Machen Sie sich frei Herr Doktor!
für sie. Er liebte einfach ihren Intellekt. Ihren unbezähmbaren Geist. Ihre glänzende Organisationsgabe. Ihren Instinkt für menschliche Beziehungen. Und natürlich ihren moralischen Mut, überlegte Sir Lionel Lychfield, während er in Richtung West End fuhr.
Er hätte sich niemals so gelassen der Lächerlichkeit und dem Spott ausgesetzt, wie es Mrs. Samantha Dougal getan hatte. Prinzipien zuliebe, an die sie glaubte und andere nicht - oder, wie sie sich bitter beklagte, die anderen Menschen völlig gleichgültig waren. Ein Muster der Tugend unter den Frauen.
Während der Dean sich dem Regent Park näherte, ließ er seiner Phantasie freien Lauf. Angenommen, er hätte Mrs. Samantha Dougal geheiratet und nicht Josephine? Samantha war ein wenig mollig, doch wie viele magere Männer hatte er eine Vorliebe für gut gepolsterte Frauen. Das sei vom Darwinschen Prinzip der natürlichen Auslese motiviert, meinte er. Zugegeben, Josephine war die bessere Köchin. Und wenn er Josephine nicht geheiratet hätte, hätte er seine Schwägerin niemals kennengelernt. Er seufzte ein wenig und bedauerte, daß Monogamie und die Stellung eines Dean von St. Swithin Synonyme waren.
Er überquerte den Berkeley Square und parkte seinen Wagen vor der Polizeistation.
Zwischen Anschlägen, die das Publikum aufforderten, die Fernsehgebühren zu bezahlen und auf den Kartoffelkäfer achtzugeben, eilte er die Treppe hinauf. Er gelangte zu einem Schreibtisch, hinter dem in Hemdsärmeln ein Polizeiinspektor mit rotem Gesicht saß.
»Guten Abend, ich bin Arzt.«
»Guten Abend, Doktor. Wurden Ihnen Drogen gestohlen?«
»Ich komme in einer überaus ernsten Angelegenheit. Wie ich höre, halten Sie Mrs. Samantha Dougal in Gewahrsam.«
»Das will ich meinen!« Ein breites Lächeln glitt über das Gesicht des Beamten. Ein zweiter Polizist, der das Zimmer betrat, lachte schallend. »Eine Ihrer Patientinnen, Doktor?«
»In diesem Fall, ja.«
Der Dean blickte die beiden Polizisten streng an. Ihm schien die Angelegenheit keineswegs zum Lachen. Jetzt wußte er, wie den Patienten von St. Swithin zumute war, wenn sie nackt auf dem Untersuchungstisch lagen und sich fragten, was für eine schreckliche Krankheit sie hätten, während der untersuchende Arzt munter mit den Krankenschwestern scherzte.
»Die Moralnudel«, sagte der Inspektor vergnügt, »ist wirklich ein Teufel.«
»Das kann ich nicht glauben«, erklärte der Dean steif.
»Sie sollten sehen, wie die Uniform des Polizisten aussieht, der sie festnahm.«
»Sie sollten sehen, wie der Polizist selbst aussieht«, grinste der andere.
»Zum Glück hat er laut Spitalsbefund keine ernsten Verletzungen. Wir können die Dame freilassen. Er war wohl mehr erschreckt als verwundet.«
»Aber wie kam es dazu?« fragte der Dean ungläubig. »Ich kenne Mrs. Samantha Dougal seit vielen Jahren. Es entspricht ganz und gar nicht ihrem Charakter.«
»Bei Frauen weiß man nie, nicht wahr, Doktor? Sie sind unberechenbar. Wie Löwen im Zirkus. Gerade wenn man glaubt, sie völlig gezähmt zu haben, beißen sie einem den Kopf ab.«
Der Dean war wirklich nicht zum Philosophieren aufgelegt.
»Ich bin gekommen, um so rasch wie möglich ihre Freilassung zu erreichen. Aus medizinischen Gründen hätte man sie nie einsperren dürfen; sie leidet unter chronischer Klaustrophobie.«
»Aber es ist schon zum Lachen«, fuhr der Inspektor freundlich fort. »Mrs. Samantha Dougal im Kittchen. Wenn man sein ganzes Leben damit verbringt, anderen Menschen Verhaltensmaßregeln zu geben, schadet es vielleicht nicht, selbst einmal auf der falschen Seite des Gitters zu sein, glaub ich. Natürlich seh ich sie sonntags gern im Fernsehen. Mir gefällt jemand, der sagt, was er denkt. Und...« Er machte eine ausladende Bewegung vor seinen Brusttaschen, »ihr Balkon ist nicht übel.«
Der Dean legte sein Scheckbuch auf den Schreibtisch.
»Wenn Sie mir jetzt die Höhe der Kaution bitte nennen -«
»Geld ist nicht nötig, Doktor. Nur ein Formular ist zu unterzeichnen. Die Verhandlung ist morgen um zehn Uhr im Greek-Street-Bezirksgericht.«
Zwei Minuten später brachte der hemdsärmelige Polizist Mrs. Samantha Dougal.
»Samantha!«
»Lionel!«
Sie sah rosiger aus als sonst, als sie durch die Schwingtür kam. Ihr braunes Haar fiel immer noch in voller Üppigkeit auf ihre Schultern, ihre Unterlippe zitterte. Aus ihren glänzenden Augen fielen zwei Tränen - dem Dean schienen sie doppelt so groß wie die Tränen anderer Menschen. Eine
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