Machen Sie sich frei Herr Doktor!
Krankheit vorzutäuschen. »Du solltest zu Hause im Bett liegen, Lionel. Und nicht durch die düsteren Schatten eines neuen Zeitalters der Lasterhaftigkeit wandern, in dem zweitausend Jahre Kultur zusammenbrechen. Aber ich nehme an, daß du dich selbst überzeugen wolltest?«
Der Dean nickte. »Ja, wollte mich persönlich überzeugen. Und ich sah genug.«
»Was sahst du?« fragte sie mit professionellem Interesse.
Er machte eine vage Handbewegung. »Ach, dieses und jenes. Mädchen, die auf der Straße rauchen und so.«
Sie entnahm einem Bündel unter ihrem Arm ein bedrucktes Blatt Papier. »Hier, nimm das. Es ist die Aufzeichnung meines Fernsehprogramms vom letzten Sonntag. Ich bin überzeugt, daß es dir neue Denkanstöße geben wird.«
»Vielen Dank.«
»Nun, jetzt ist es nur noch eine Woche bis zu unserem großen Tag in St. Swithin.« Der Dean schluckte. Sogar die Königin hatte er vergessen. »Übrigens hoffe ich, daß du morgen den Kaplan sprechen wirst«, fügte sie hinzu.
»Unmöglich. Er ist in Whitstable.«
»Ich meine doch den neuen Kaplan. Der Bischof legte großen Wert auf meinen Rat, als er ihn berief. Schließlich bin ich Präsidentin der Liga der Freunde. Ich bin überzeugt, daß du den jungen Mann überaus anregend finden wirst. Und jetzt werde ich wieder an die Arbeit gehen. Muß alle diese Aufrufe in Wirtshäusern und ähnlich traurigen Plätzen verteilen, bevor ich den letzten Zug nach Guildford nehme. Grüß Josephine von mir.«
»Ja, danke. Übrigens... bitte sag Josephine nicht, daß wir einander trafen.« Samanthas Augen weiteten sich. »Sie sieht es nicht gern, wenn ich so gefährliche Orte aufsuche. Jemand könnte mir die Kehle durchschneiden. Du weißt ja, wie sie mich bemuttert.«
»Natürlich. Werde kein Wort sagen, das ihr Sorgen machen könnte. Gute Nacht, Lionel.«
Der Dean trottete seines Weges. Samanthas
Schriftstück warf er in den nächsten Papierkorb. Vielleicht war es übertrieben, so zu erschrecken, wenn man beim Besuch einer Strip-Show überrascht wurde, überlegte er. Jedenfalls würde Sir Lancelot am nächsten Morgen bereits das Land verlassen haben. Sonst konnte ihn kein Mensch verraten. Warum sollte seine Frau etwas davon erfahren? Schließlich, dachte er etwas fröhlicher, hatte sie auch nichts von jenem Nachmittag erfahren, den er, von seinen Studenten eingeschlossen, mit der Oberschwester in einem Kleiderschrank verbringen mußte.
4
Am nächsten Morgen um neun Uhr marschierte der Dean trotz eines leichten Katers mit seiner Tochter Faith munter auf die große Glastür des neuen St.-Swithin-Traktes zu.
Die Tür öffnete sich lautlos, als sie näher kamen -zweifellos dank irgendeinem Mechanismus, der unter der Fußmatte verborgen war, nahm der Dean an. Ihm gefiel diese Neuerung; es war fast, als würde man von Lakaien umsorgt. Seine Begeisterung wurde durch die zwei, drei Male, die der Mechanismus versagt hatte und er mit der Nase gegen die Glastür gestoßen war, kaum getrübt.
Der Dean war fortschrittlicher, als seine Studenten annahmen. Er schwankte zwischen der Ansicht der Jugend, daß jede Veränderung begrüßenswert sei, und der Meinung der Älteren, daß jede Änderung verderblich sei. Doch um sich an den neuen Trakt von St. Swithin zu gewöhnen, würde es eine Weile brauchen, dachte er. Jeden Morgen war er ein wenig überrascht, das neue Gebäude zu sehen. Das alte Gebäude war allerdings wirklich scheußlich gewesen — gelbe Ziegelsteine, Schieferbedachung, kleine Fenster, vier Stockwerke, an ein Gefängnis erinnernde endlose Gänge, jedem unvergeßlich, der sie jemals durchmessen mußte. Eine öffentliche Sammlung hatte den Bau des neuen Traktes ermöglicht, und man weiß, Wohltätigkeit ist mit ihren Gaben nicht verschwenderisch.
Der alte Vorhof war geblieben und wurde von einer häßlichen lärmenden Geschäftsstraße durch dasselbe alte Gitter getrennt, an dessen Spitzen die aktiveren Studenten ihre Fahnen und manchmal auch sich selbst anzubinden pflegten, um für ihre eben aktuellen Forderungen zu werben. Inigo Jones’ Gründerhalle war ebenfalls erhalten geblieben und erweckte unter dem grauen Himmel Londons Vorstellungen vom Venedig des 17. Jahrhunderts, von baldachinüberdachten Gondeln und golddurchwirkten Brokaten. Die Spitalskapelle aus rotem Backstein mit den bunten Glasfenstern und dem polierten Messing war von tüchtigen viktorianischen Geschäftsleuten errichtet worden, die nicht einsahen, warum ein Gotteshaus weniger massiv und
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