Macho Man: Roman (German Edition)
von Karl, denn Ullis Humor hört bei Krankheitssymptomen auf.
»Wirklich?«
Jetzt muss Lysa, von einem inneren Zwang getrieben, noch tiefer in der Wunde bohren:
»O ja, tatsächlich. Rote Flecken in Form der finnischen Seenplatte – ein klares Symptom für Helsinki-Fieber.«
»Helsinki-Fieber???«
Jetzt kriegt Ulli tatsächlich rote Flecken im Gesicht. Und Karl setzt noch einen drauf:
»Helsinki-Fieber. Zu 95 Prozent tödlich. Wenn du jetzt noch einen beschleunigten Puls hast...«
»Ja, hab ich!«
»Starker Druck im Bauch?«
»O Gott, ja!«
»Stiche in der rechten Niere? Schlimme Zahnschmerzen? Das Gefühl, dass dir jemand mit einem Strohhalm Luft in den Stirnlappen bläst?«
Kurz vor der Ohnmacht dämmert Ulli, dass er verarscht wird. Da ihm für eine Retourkutsche die sprachlichen Mittel fehlen, startet er ein Ablenkungsmanöver:
»Okay, lasst uns über die Männlichkeit von koffeinfreiem Kaffee reden. Daniel, mit Männlichkeit kennst du dich doch aus.«
Lacher. Offenbar hat hier niemand etwas von meiner männlichen Entwicklung in der Türkei mitbekommen. Und Lysa wohl auch nicht:
»Also, Daniel kann jederzeit ein feminines Profil für Kettensägen erschaffen.«
Großer Lacher. Seltsam: Früher hat mir mein Weichei-Image nichts ausgemacht. Plötzlich stört es mich. Ich überlege kurz, wie ich ihnen klarmachen kann, dass ich mich in den letzten zwei Wochen total verändert habe. Aber wie verhält man sich überhaupt männlich – in Deutschland? Wenn ich hier einen Rosenverkäufer mit abwehrender Geste und Grunzlauten verscheuche, hält man mich für ein Wildschwein mit Naziattitüde.
In der Türkei weiß man, wie man sich als Mann zu verhalten hat – aber hier? In Deutschland ist der ideale Mann einfühlsam und bestimmend; ein sanftes Muskelpaket, das klare Grenzen setzt, ohne die Freiheit auch nur im Geringsten einzuschränken; jemand, der unter Berücksichtigung der weiblichen Perspektive und zyklischen Befindlichkeit ganz klar sagt, wo's langgeht – kurz: der Chef in einer gleichberechtigten Partnerschaft.
Um fünf Uhr ist endlich Feierabend. Wir haben zwar noch keinen male approach to koffeinfreier Kaffee, aber mein stomach created gerade den need for Nahrung. Ein Whopper Menü XL mit Bacon, Käse, Mayo und Cola später merke ich: Mir fehlen nicht Kalorien, mir fehlt Aylin. Noch dreieinhalb Wochen ohne sie – wie soll ich das nur aushalten?
Immerhin können wir jeden Tag Kontakt halten – das war ja früher nicht so. Goethe musste damals, nachdem er sich in Italien verliebt hatte, von Weimar aus seine Briefe mit einer Pferdekutsche losschicken, die erst Wochen später am Ziel eintraf! Das heißt, selbst wenn seine Flamme direkt geantwortet hat, musste der arme Kerl mindestens sechs Wochen auf die Antwort warten – in der Zeit hat er die komplette »Iphigenie« in Jamben umgeschrieben und das Prinzip der Urpflanze entdeckt. Und selbst wenn die italienische Ische ihm zurückschrieb, dass sie ihn immer noch liebt – in den drei Wochen, die ihr Brief unterwegs war, hätte sie sich in einen anderen verlieben, heiraten, an Typhus erkranken und sterben können.
Das heißt, im selben Moment, wo Goethe ihren Brief las, in dem sie ihm ewige Liebe schwor, wurde vielleicht gerade ihrKadaver mit dem Ehering eines anderen am Finger zusammen mit anderen Typhus-Leichen in ein Massengrab geworfen. Goethe muss doch bekloppt geworden sein. Klar, dass man da tiefere Verzweiflung erlebt hat als heute. Als Goethe seine Freundin vermisste, schrieb er Sätze wie »Das volle, warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit so vieler Wonne überströmte, das rings umher die Welt mir zu einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unerträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geist, der mich auf allen Wegen verfolgt.«
Ich bin 100 Prozent sicher: Hätte Goethe ein Handy gehabt, hätte er auch nicht mehr gesimst als HADILI, SCHGRAFA, VB (Hab dich lieb, schreib gerade den Faust, viele Bussis).
Unsere moderne Kommunikation ist schön und gut, aber Vermissen war früher einfach romantischer:
»Ach, Geliebte! Mein banges Herz will vor Verlangen in meiner Brust zerbersten! Oh, wie ich dich liebe, mit allen meinen Sinnen, mit meiner ganzen Seele, vollständig.«
(Sechs Wochen später) »Oh Geliebter! Als ich deinen Brief erhalten habe, wie mir das durch alle Adern lief, wie sich ein Vorhang vor dem dunklen Abgrund meiner quälenden Sehnsucht wegzog und das Licht der Hoffnung meine Pein
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