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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Tage.
    Kahlscheuer blickte ihn fragend an. »Diese Nachricht scheint Sie nicht sonderlich zu berühren?«
    »Nein«, versetzte Philip knapp und setzte sich wieder in Bewegung.
    »Was haben Sie vor?«, begehrte Kahlscheuer zu wissen.
    Das Signal der S-Bahn-Türen erklang dreistimmig über den Bahnsteig. »Ich muss zum Flughafen.«
    Der Priester eilte ihm besorgt hinterher. »Was wollen Sie dort?«
    Philip blieb die Antwort schuldig. Er drückte den Knopf und die Türen glitten vor ihm auseinander. Er trat ins Waggoninnere, wo ihn ein Schwall abgestandener Hitze empfing. Aber die war allemal besser als die arktischen Temperaturen draußen.
    »Wollen Sie fliehen?«, argwöhnte Kahlscheuer. Er folgte Philip in den Zug. Im Waggonlicht war klar und deutlich zu erkennen, dass in seinem Gesicht seit ihrer letzten Begegnung noch mehr Äderchen unter der Haut aufgeplatzt waren. Seine Wangen waren dunkelrot, seine Nase daumendick geschwollen.
    »Nein, ich will nicht fliehen.«
    Die Türen schlossen, kurz darauf ging ein Ruck durch den Triebwagen. Die Bahn rollte an. »Was wollen Sie dann?«
    »Hören Sie, es ist…« Philip verstummte und sank auf einen der Sitzplätze. Dessen Unterkante war mit einem undefinierbaren Graffiti verziert. Am Waggonboden trieb ein schmutziges Rinnsal Schmelzwasser, das die Schuhe eines Passagiers hinterlassen hatten.
    Der Waggon war bis auf einen älteren Herrn, der in dicker Daunenjacke, Schal und Mütze versank, leer. Trotzdem dämpfte Philip seine Stimme: »Wissen Sie was? Sie können mir helfen.«
    Der Priester trat auf Philip zu. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er sich neben ihn setzen, Schulter an Schulter. Doch dann besann sich Kahlscheuer. Vielleicht erinnerte er sich an Philips eigentümliches Verhalten auf dem Bahnsteig. Er nahm auf der Bank gegenüber Platz, zog die Handschuhe aus. Faltige, von Gicht verkrümmte Finger kamen zum Vorschein, die er nervös zu kneten begann. »Vorher verraten Sie mir, was los ist. Ich habe Sie vor wenigen Minuten auf dem Bahnsteig beobachtet.«
    Philip schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie mir, was gestern bei Ihnen im Pfarrhaus geschehen ist.«
    »Aber danach sind Sie an der Reihe. Einverstanden?«
    »Seit wann machen Priester Geschäfte?«
    Kahlscheuer presste die Lippen aufeinander. Seine Miene verzog sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse, als er seinen arthritischen Leib nach vorne beugte. Trotzdem konnte Philip ihn kaum verstehen.
    Während er seine Finger weiter bearbeitete, berichtete der Priester von Eleonore Berder, die inmitten eines Schneetreibens vor seinem Pfarrhaus aufgetaucht war, obwohl sie eigentlich auf die Intensivstation des Jüdischen Krankenhauses in Wedding gehörte. Er schilderte die Panik, die sie ergriffen hatte, als plötzlich jener Mann auftauchte, den sie Lacie nannte – einen Abgesandten des Vatikans. Das pockennarbige, bleiche Gesicht, das Kahlscheuer dabei beschrieb, ließ Philip aufhorchen.
    Vor seinem geistigen Auge tauchte eine Gestalt auf. Ihr Gesicht war voller Narben und so kahl und knochig, dass es wie ein übel zugerichteter Totenschädel aussah. Dunkle Ringe unter den Augen bildeten die einzige Farbschattierung in einer gespenstischen Blässe. Der Mann griff nach dem Fotoapparat… Kein Zweifel, dieser Lacie hatte nicht nur seine Großmutter umgebracht, er hatte auch den Mord an Rüdiger Dehnen, dem Fotografen, auf dem Gewissen. Das konnte kein Zufall sein.
    Dem alten Mann vorne im Waggon war der Kopf auf die Brust gesunken, seiner Nase entrang sich ein mattes Schnarchen.
    Philip nahm die Bommelmütze vom Kopf und rieb sich den kahlen Schädel. Hatte er vor wenigen Minuten tatsächlich nach einem Ziel gesucht? Um Antworten gerungen? Blödsinn! Erst die grauenhafte Vision, jetzt der Priester mit seiner Botschaft. Nichts anderes als eine Botschaft war es. Wann begriff er endlich, dass die Dinge einfach geschahen, ganz ohne sein Zutun. Er musste sich nur darauf einlassen und sie akzeptieren. Früher oder später würde er dann automatisch auf die Antworten stoßen.
    Kahlscheuer musterte ihn. Er hatte aufgehört, seine gichtigen Finger zu kneten. Jetzt wirkte er, als warte auch er dringend auf Antworten. Philip war noch nicht bereit, sie ihm zu geben. »Sie glauben, dieser Lacie hat es auf mich abgesehen?«
    »Ja.«
    »Was macht Sie so sicher?«
    »Kurz bevor er Ihrer Großmutter das Genick brach, sagte er ihr, sie hätten ihren Mann gekriegt. Und auch Philip werde ihnen ins Netz gehen. Es sei nur eine

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