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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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sich, die mit ihnen aus der Bahn gestiegen waren, und strebten in die Richtung, in der sie den Flughafen vermuteten.
    Schneidender Wind stemmte sich ihnen entgegen, als wollte er sie von ihrem Vorhaben abhalten. Auch die Schneeberge, die die Räumdienste vor scheinbar ewigen Zeiten von den Straßen auf die Bürgersteige geschoben hatten, erschwerten das Vorankommen.
    Als sie endlich das Terminal erreichten, war ihre Kleidung durchnässt, und sie froren jämmerlich. Trotzdem blieb Philip wie angewurzelt vor dem Eingangsportal stehen. Obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als diesem tosenden Sturm zu entkommen, konnte er sich plötzlich nicht mehr bewegen.
    »Was ist los?« Der Priester sah ihn irritiert an. »Warum kommen Sie nicht?«
    Von Philips Entschlossenheit war nichts mehr übrig. Er zitterte, nicht nur vor Kälte. Die riesige Abflughalle des Flughafens Berlin-Schönefeld war voller Menschen. Es waren mehr Fluggäste, als Philip wenige Tage vor Weihnachten, noch dazu bei diesem Unwetter, erwartet hatte. Die breite Leuchttafel, die gegenüber dem Eingang über alle Abflüge informierte, verriet ihm, mit einem goldenen Adventsstern verziert, den Grund: Alle Flieger, die für heute eingeplant waren, waren verspätet, verschoben oder gleich gestrichen. An diesem Sonntagmorgen hatte sich noch kein einziges Flugzeug vom Boden erhoben.
    Vorsichtig machte er einen Schritt. Die Schiebetür glitt auseinander. Warme Luft kroch ihnen entgegen, angereichert mit dem ungeduldigen, genervten Geplapper der Wartenden. Kahlscheuer lief ins Gebäudeinnere. Philip verharrte wieder auf der Stelle.
    Im Erdgeschoss lungerten die Touristen, Geschäftsleute und Familien auf den Sitzschalen in den Wartebereichen oder trieben sich in den wenigen Geschäften herum, die geöffnet hatten. Die Auslagen beim Bäcker und in den Cafes, üblicherweise reichhaltig mit belegten Brötchen, Teigwaren und Torten gefüllt, waren nahezu leer. Nicht etwa, weil heute Sonntag war. Schilder gaben Auskunft darüber, dass Frischwarenlieferungen wegen des anhaltend schlechten Wetters ausgeblieben waren: Liebe Kunden, wir bitten um Ihr Verständnis.
    Die leeren Vitrinen erinnerten ihn daran, dass er seit dem Caesars-Chicken-Salat ohne Hähnchen im Habana gestern Abend nichts mehr zu sich genommen hatte. Aber Hunger verspürte er nicht.
    Sosehr ihm der Jahrhundertwinter Sorgen bereitete, möglicherweise hatte er in diesen Stunden auch sein Gutes: Vielleicht erwies sich seine Vision als falscher Alarm. Wenn kein Raumdienst mehr ausrückte und keine Flieger sich in die Lüfte erhoben, dann würde auch kein Unglück geschehen.
    »Was ist mit Ihnen?«, rief Kahlscheuer ungeduldig. Er zupfte die Handschuhe von den Fingern, steckte sie in die Manteltaschen. Anschließend schlug er den Kragen zurück. Jetzt war das schmale weiße Priesterleinen nicht mehr zu übersehen. »Warum kommen Sie nicht?«
    In der ersten Etage erregten die Schalter mit den violetten Schildern einer Fluglinie Philips Aufmerksamkeit. Passagiere, die in lilafarbene Sitzbezüge gepresst wurden. Schweiß brach ihm aus. Nein, er durfte keinem Fehlglauben erliegen: Heute stiegen noch Flugzeuge auf, und eines würde sein Ziel ganz bestimmt nicht erreichen. Seine Fähigkeiten hatten ihn noch nie betrogen. Doch in diesem Augenblick waren sie sein größtes Handicap. Bei dem Gedanken, in die gereizte, rücksichtslose Menschenmenge zu tauchen, eine Berührung nach der anderen zu erleiden, wurde ihm übel.
    Er presste Luft in seine Lungen, gab sich einen Ruck. Er hatte keine andere Wahl. Es war seine Bestimmung.
    »Dorthin«, sagte er und wies auf die Rolltreppe, die zu den Abfertigungsschaltern von Germanwings hinaufführte. Hastig schlängelte er sich an den Menschen vorbei, sorgsam darauf bedacht, jeden Körperkontakt zu vermeiden. Sie erreichten das erste Stockwerk. Noch mehr Menschen, viel zu viele. Manche schliefen, einige schwiegen, die meisten eilten kreuz und quer durch die Halle, sprachen miteinander, riefen und schrien. Immer wieder wurde die unentwirrbare Kakofonie der Stimmen von einem Gong und einer anschließenden Durchsage durchbrochen.
    »Und jetzt?«, fragte Kahlscheuer.
    Philip hastete in eine Nische zwischen die Geschäfte zweier Last-Minute-Anbieter. Er riss sich Kens Strickmütze vom Kopf, zupfte nervös an dem Stoff. Er verspürte Durst auf einen Wodka Lemon. Der raue Alkohol in seinem Mund, warm in seinem Magen, würde ihm den notwendigen Mut verleihen für das, was ihm

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