Macht der Toten
zügeln.«
»Ich denke, dass…«
»Genau das ist Ihr Problem.« Garnier setzte sich auf den Stuhl zurück, beschrieb mit seiner Hand eine herrische Geste. »Sie denken zu viel. Und nicht alles davon ist richtig!«
De Gussa schwieg. Sein Kopf sank auf die Brust. Was hatte Garnier vor? Für eine Weile sagte niemand etwas. Beklommene Stille erfüllte den Raum. Irgendwann durchschnitt Garniers Stimme das Schweigen: »Wir glauben, dass es besser ist, wenn Sie gehen.«
Sein Haupt ruckte empor. Er hatte vieles erwartet, aber das? »Wer glaubt das? Sie alleine? Oder auch das Offizium?«
Hilfe suchend musterte er die Freunde. Noch immer blieben ihre Münder verschlossen. Einige sahen zur Seite, wichen seinem Blick aus. Keiner von ihnen würde ihm helfen. Das waren also seine Gefährten, mit denen er seit Jahrzehnten, seit man ihn ins Offizium berufen hatte, die Grundfesten der Kirche zu bewahren versuchte. Sie waren Fremde für ihn geblieben. Mit schwacher Stimme sagte er: »Sie machen einen Fehler. Sie alle.«
»Sie haben den Fehler begangen, de Gussa! Wir korrigieren ihn nur.«
Wie begossen stand de Gussa vor den Männern. Wenn er ehrlich war, musste er Garnier recht geben. Er hatte versagt.
Wie zur Bestätigung klopfte es an der Tür. Bevor der Bischof noch etwas sagen konnte, bat Garnier bereits den Gast herein. Der Präfekt war nicht länger Anführer der Opposition, er war der neue Vorstand des Offiziums.
Die Tür öffnete sich. Armand van Loyen betrat das Dämmerlicht. Fassungslos verfolgte de Gussa, wie sein Sekretär, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbeilief. Er stellte sich neben Garnier. Dieser sagte feierlich: »Darf ich vorstellen: Ihr Nachfolger.«
»Wie können Sie das einfach so entscheiden? Es hat keine Abstimmung darüber gegeben«, protestierte de Gussa, doch es klang nur halbherzig. Garnier hatte die anderen längst im Griff, es war unsinnig, auf die Einhaltung der Regeln des Offiziums zu drängen. Leise fragte er. »Und jetzt?«
Garnier lächelte. »Sie wissen doch: Mitglied des Offiziums ist man und bleibt man. Es sei denn…« Die restlichen Worte sprach er nicht mehr aus.
De Gussa nickte. »Ich habe verstanden.«
Berlin
»Was wird jetzt mit mir passieren?«, lag es Philip auf der Zunge, aber er sprach die Worte nicht aus. Der andere würde ihm die Frage sowieso nicht beantworten.
Er rieb sich die Finger. Er spürte sie nicht. Vielleicht waren sie schon erfroren und abgefallen. Verwundert hätte es ihn nicht. Er sah sein Gegenüber an. Weil ihm nichts Besseres einfiel, fragte er: »Wie soll ich dich nennen?« Es klang absurd, selbst in seinen eigenen Ohren.
Der andere hob nachsichtig die Hand. Er trug Handschuhe, ganz im Gegensatz zu Philip. »Schon seltsam, oder? Ich kann mich daran erinnern, wie ich diese Frage vor zwanzig Jahren gestellt habe.«
»Und?« Philip rümpfte die Nase. Es würde schwer werden, sich mit jemandem zu unterhalten, der den Ablauf des Gesprächs bereits kannte. »Wie lautete die Antwort?«
»Nenn mich einfach beim Namen.«
»Philip?«, presste Philip hervor. »Philip?«, wiederholte er. Seltsamerweise kam ihm das überhaupt nicht richtig vor.
»Ich weiß, ich weiß«, meinte der andere, »es kann nur einen geben.« Er zuckte trotzig die Achseln. »Aber es gibt trotzdem zwei!« Er zerrte ein Taschentuch aus seiner Jacke und schnäuzte sich. »Ich weiß auch, insgeheim nennst du mich ›der andere‹. Damals fand ich das ebenfalls in Ordnung. Aber heute, während ich auf der anderen Seite stehe…« Er schüttelte den Kopf. »Das ist alles so verwirrend. Während ich das sage, erinnere ich mich an meine Begegnung, damals, als ich…« Mit einer schnellen Bewegung deutete er auf den Koffer. »Als ich damit auf die Startbahn stürmte, auf und davon. Irgendwie habe ich das Gefühl, mir platzt der Schädel, wenn ich zu sehr darüber nachdenke.«
Philip entsann sich an sein eigenes Gefühl vor wenigen Minuten, als er versuchte, dem Phänomen mit Vernunft Herr zu werden. »Dann lass es bleiben«, schlug er vor und runzelte die Stirn. Die Geschichte wiederholt sich. Würde er selbst in zwanzig Jahren ebenso mit Kopfschmerzen darüber grübeln? Vergiss es, ermahnte er sich selbst. Er wird diese Fragen nicht beantworten.
Aber eine vielleicht doch. »Die Münzen«, sagte Philip, als reichte das aus.
Der andere stopfte das Taschentuch zurück in die Jacke. Erst jetzt stellte Philip fest, dass seine Nase rot und wund war. »Die Münzen?« Er
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