Macht der Toten
Mundaste vernehmen. »Wir werden die Bücher hüten. Die Familie Hader wird ihren neuen Nachkömmling hüten. So war es immer.«
»So wird es auch diesmal sein«, schloss Boris Garnier und rückte seinen Stuhl zurecht, als wollte er das Zeichen zum Aufbruch geben.
Die Geschichte wiederholt sich nicht! Merkt ihr das denn nicht? De Gussa wollte den Haufen verweichlichter Würdenträger anbrüllen. Doch er ahnte, es würde nichts an ihrer Haltung ändern. Warum auch sollten sie ihm Glauben schenken? Solange sich Cato nicht bei ihm meldete, hatte er keinerlei Beweise für seine Behauptung. Er selbst wusste ja nicht einmal, ob die Welt aus den Fugen geriet oder ob er sich alles nur einbildete.
Sein Handy klingelte. Das musste Cato sein. Es gab sonst niemanden, der diese Nummer besaß. Außer Lacie natürlich. Aber mit einem Anruf des Narbengesichts rechnete de Gussa nicht mehr. Er holte das Telefon aus der Tasche. Seine Hände zitterten. Jetzt war der Augenblick gekommen. Er würde den Männern am Tisch die Wahrheit mitteilen können. Ein euphorisches Hochgefühl packte ihn, als er das Gespräch entgegennahm. »Hallo?«
Die Verbindung war schlecht. Das Knacksen in der Leitung übertönte eine viel zu leise Stimme. »Sprechen Sie lauter!«, rief de Gussa, und die Würdenträger um ihn herum wurden leiser. Mit einem Mal war auch die Leitung wieder klar, und die heisere Stimme Catos drang aus dem Hörer: »Sie haben sich…«
»Warten Sie!«, brüllte de Gussa ins Handy und schnellte von seinem Stuhl empor. Doch der Anrufer sprach weiter. Er rief: »Haben Sie mich verstanden, Bischof? Ich sagte: Sie haben sich geirrt.«
In dem kleinen Raum war es plötzlich mucksmäuschenstill. Keiner der Freunde gab einen Laut von sich. Alle starrten de Gussa an, der mit wehender Soutane aus dem Raum hetzte. Er spürte die Blicke, die sich in seinen Rücken bohrten. Es hätten genauso gut Dolche sein können.
Die Tür schlug hinter ihm ins Schloss. Draußen im Flur wartete er gar nicht mehr lange Catos Erklärungen ab. »Bringen Sie mir den Jungen, aber schnell!«
»Ja, aber…«
»Beeilen Sie sich, Herrgott. Suchen Sie ihn, bevor es zu spät ist.«
»Zu spät?«
»Fragen Sie nicht! Machen Sie es!«, forderte de Gussa. War er denn nur noch von Versagern umgeben? »Ich mache mir Sorgen seinetwegen. Sie müssen ihn im Auge behalten. Unbedingt.«
Er drückte das Gespräch weg. Er wartete einen Augenblick, atmete durch. Dann kehrte er zurück in den Raum zu seinen Freunden.
Berlin
»Wie alt sind…« Philip brach ab. Er wollte seinen ungewöhnlichen Gesprächspartner doch nicht etwa siezen? Mach dich nicht lächerlich! »Wie alt bist du?«
»43.«
»43 Jahre!«, entfuhr es Philip. Er war fast zwanzig Jahre älter. Unglaublich. Zwanzig Jahre! War das wirklich möglich? Philip versuchte es zu begreifen, doch je mehr er darüber nachdachte, umso schwindeliger wurde ihm. Es reichte, wenn er es akzeptierte.
Augenblicklich brachen unzählige Fragen über ihn herein. Wann hatte man schon die Chance, einen Blick in die Zukunft zu werfen – außer in Form grausamer Visionen? Wie sah die Welt in zwanzig Jahren aus? Gab es immer noch so viel Hass, Schrecken und Angst unter den Menschen? Gewalt und Kriege? Wie ging es in Deutschland zu? Wie groß war Berlin geworden? Womit verdiente er seine Brötchen? Wendete sich alles wieder zum Guten? Wahrscheinlich, sonst ständen sie sich jetzt nicht gegenüber.
Die vielleicht wichtigste Frage aber war: Was war mit Chris? Fanden sie wieder zueinander? Sahen sie ihr Baby gemeinsam aufwachsen? Die Tochter? Den Sohn?
»Ich weiß, woran du denkst«, unterbrach sein Gegenüber die Gedankengänge. Seine Lippen umspielte ein Lächeln. »Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als du… als ich…« Verlegen wischte er sich Schneeflocken von der Nase. »Entschuldige, es fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen, auch nach zwanzig Jahren.« Er senkte seine Stimme. »Es ist ein eigenartiges Gefühl, jetzt auf der anderen Seite zu stehen.«
Philip nickte verständnisvoll. Natürlich, sein Gegenüber konnte sich ganz bestimmt sehr gut daran erinnern, was vor zwanzig Jahren vorgefallen war. Es war aberwitzig, trotzdem ergab es einen Sinn.
Der andere setzte wieder ein Lächeln auf: »Vergiss es! Ich werde dir keine dieser Fragen beantworten. Deshalb bin ich nicht gekommen.«
Philip bemerkte, dass der Schneesturm langsam nachließ. Die Sicht wurde besser. Nicht mehr lange, und man würde
Weitere Kostenlose Bücher