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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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»So weit bin ich auch schon.«
    Der andere strafte ihn mit einem bösen Blick. »Ja, ich weiß. So weit bist du auch schon.« Er hob die Hand vor den Mund, hustete krächzend und spuckte einen Schleimbeutel in den Schnee. »Cuthbert war der Erste, der von der Welt zwischen diesen Polen Kenntnis bekam.«
    Philip entsann sich seiner Unterhaltung mit dem Priester Jakob Kahlscheuer. Die verlorenen Seelen… die Gespenster, Geister, Untoten…die nicht dort ankommen, an diesem besseren Ort … »Die Zwischenwelt«, sagte er.
    »Ja, und sie ist ungleich grausamer als das, was alle nur das Paradies nennen.«
    Der Schneefall ließ nach, auch der Wind blies nicht mehr mit solcher Heftigkeit wie noch vor einigen Minuten über das Flugfeld. Aber der Winter hatte der Welt die Farbe geraubt. Hoffnungsloses Weiß, so weit das Auge reichte.
    »Die Familie Hader stammt von Cuthbert ab. Unser Opa stammt von ihm ab. Ebenso unsere Mutter, das Kind unserer Großeltern. Ich stamme von ihm ab. Du stammst von ihm ab. Und Generation um Generation wurde Cuthberts Wissen weitergegeben, und mit ihm seine Gabe.«
    »Die Wunder?«
    »Wunder?« Der andere spuckte die Worte verächtlich wie seinen ranzigen Batzen Schleim aus den Bronchien. Aber dahinter lag noch viel mehr: Erschöpfung. Er konnte es nicht verbergen, auch wenn er es versuchte. »Wunder hat so einen… christlichen Beigeschmack. Aber mit der Kirche hat das schon lange nichts mehr zu tun. Nenn es Begabung.«
    Philip sagte: »Ich nenne es Fähigkeiten.«
    »Ich weiß.«
    Philip sah ihn mürrisch an. Natürlich wusste er es. Er hatte die Fähigkeiten, mit der Zwischenwelt zu kommunizieren. Sein Großvater hatte diese Gabe auch. Seine Mutter. Erklärte das die Verbitterung seines Vaters?
    »Ich weiß, was dir jetzt auf der Zunge brennt. Aber gedulde dich, du wirst alle Antworten erfahren.« Er schwieg einen Augenblick, wärmte seine Finger, indem er sie abwechselnd massierte. Philip befühlte seine eigenen Hände, um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren, obwohl er sie nicht mehr spürte.
    Der andere fuhr fort: »Cuthbert hat Bücher über sein Wissen verfasst. Ein Großteil der Bücher, das sogenannte Lindisfarne-Evangelium, ist verschollen. Aber einige haben die Zeit überdauert. Sie wurden weitervererbt, von einer Generation in die nächste. Großvater war der Letzte, der im Besitz dieser Bücher war. Er hat sie vor fremden Blicken bewahrt. Das war seine Aufgabe, wie es die Aufgabe jedes Erstgeborenen der Familie Hader ist. Er hat nicht nur dafür zu sorgen, dass die Fähigkeiten, über die er verfügt, ihrer Bestimmung entsprechend sinnvoll genutzt werden. Er trägt auch Sorge dafür, dass die Bücher verborgen bleiben. Großvater hat seine Aufgabe gut gemacht. Nur ein einziges Mal war er unvorsichtig. Das wurde ihm zum Verhängnis.«
    »Was ist passiert?«
    »Eines Tages fand man ihn.«
    »Wer?«, fragte Philip, obwohl er die Antwort kannte.
    »Die Kirche«, sagte der andere nicht überraschend. »Der Vatikan. Um genau zu sein: das Offizium.«
    »Wer?«
    »Ein geheimer Bund, von dem nicht einmal der Papst weiß. Ein ausgewählter Kreis von Priestern, Kardinälen und Bischöfen, die seit Jahrhunderten versuchen, diese Bücher in ihren Besitz zu bekommen. Sie haben Großvater entführt und die Bücher mitgenommen. Seitdem ist er verschwunden. Sie halten ihn gefangen. Niemand hat je wieder etwas von ihm gehört. Wir wissen nicht einmal, ob er noch lebt.« Seine Stimme wurde leiser. »Nein, wahrscheinlich lebt er nicht mehr.«
    »Die Kirche?«, wiederholte Philip.
    »Natürlich. Wer sonst? Wer sonst könnte Angst davor haben, dass das in diesen Büchern festgehaltene Wissen und die Fähigkeiten unserer Familie an die Öffentlichkeit gelangen? Es würde nicht nur die Bibel infrage stellen, sondern die gesamte Autorität der Kirche.«
    »Und diese Gefahr haben sie mit der Entführung Großvaters gebannt?«
    Der andere nickte. »Ja. Aber sie wollen die Bücher natürlich nicht nur besitzen. Sie wollen auch wissen, was darin geschrieben steht.«
    »Sie wollen?«, stutzte Philip. »Das heißt: Sie wissen noch nicht, was in den Büchern geschrieben steht?«
    »Nein, aber sie ahnen genug, dass Sie dafür Mord und Totschlag in Kauf nehmen.«
    »Wofür?«
    »Für die Fertigkeit, sie zu lesen. Es fehlt ihnen etwas Wichtiges, damit sie die verschlüsselten Zeilen lesen können. Das Achat.«
    Philip durchforstete sein Gedächtnis, ob er wenigstens davon schon einmal gehört hatte.

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