Macht der Toten
Scheibe. Der Fahrer kurbelte das Glas herunter.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, schrie er ihr entgegen.
»Wir müssen zum Flugplatz«, sagte Beatrice.
»Ach«, lachte der Fahrer. »Und ich muss aufs Klo. Sonst noch Probleme?«
»Es ist wichtig!«
»Wohin wollen Sie denn? In die Karibik?« Kopfschüttelnd kurbelte er das Fenster wieder hoch. »Leute gibt’s…«
Da stand Cato plötzlich neben ihr und riss die Tür auf. Er packte den Fahrer am Revers seiner orangefarbenen Uniform und zerrte ihn aus der Kabine. Mit einem Schmatzen landete er im Schnee.
»Los!«, sagte Cato und drückte Beatrice auf die Sitzbank. Er selbst klemmte sich hinters Steuer. Noch während er die Tür hinter sich zuzog, gab er Gas. Der LKW machte einen Satz und schoss vorwärts. In der Fahrerkabine toste der Motor mit einem Höllenlärm.
Wie betäubt spähte Beatrice über die Kühlerhaube, wo der Sturm alles daransetzte, ihnen die Sicht zu versperren. Sie konnte nicht fassen, dass sie ausgerechnet mit jenem Mann, der Paul und ihre Tante Angela-Marie auf dem Gewissen hatte und vor noch gar nicht so langer Zeit damit gedroht hatte, auch sie zu ermorden, unterwegs war, um ihren Bruder zu retten.
Verstohlen musterte sie Cato. Er krallte die Hände um das Lenkrad, hustete und schnaufte, während er den LKW beschleunigte und wie ein Besessener durch die Frontscheibe stierte. Alles geriet durcheinander.
Irgendwo
Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie herbei, Männer, Frauen, Kinder. Sehr viele Kinder sogar. Nach und nach tauchten sie aus dem diffusen Dunst auf. Sie torkelten und wankten, nicht deshalb, weil der dichte Schnee und das tückische Eis ihnen das Gehen erschwerten, sondern weil alles Leben aus ihnen gewichen war. Es waren die verfallenen Leiber von Toten, die darauf warteten, dass jemand sie von ihrem Leid erlöste.
Einigen stand ein Bein im unnatürlichen Winkel vom Körper ab, als wären sie von einem Auto angefahren worden. Manchen war der Unterkiefer zertrümmert, anderen die Nase eingeschlagen, wieder anderen fehlte der halbe Schädel, als hätte ein Fleischer mit seiner Axt ganze Schlachterarbeit geleistet. Es gab Leichen, die noch nicht richtig verwest waren und zerfetzte Kleidung trugen, von Einschüssen durchlöchert oder von Messern zerfetzt. Die T-Shirts und Kleider waren blutgetränkt, die Augen der Menschen vor Schreck geweitet, als würden sie noch immer den Moment ihres Todes erleben, ihre Hände flehten um Gnade.
Der Anblick der Kinder war der schlimmste. Mit den Kindern fängt es an. Wie waren Menschen nur zu solchen Grausamkeiten fähig? Bestürzt sah Philip von einer Leiche zur nächsten. Es waren so viele. Hunderte?
Manche von ihnen bestanden nur aus Knochen und Kleiderfetzen, und ihre bleichen Kiefer schienen zu grinsen. Andere faulten noch wie Aas, trugen aufgeplatzte Haut zur Schau, aus der Flüssigkeit tropfte und eine schleimige Spur über den Asphalt zog. Einige waren gerade erst gestorben, ihre Haut mit grünen und blauen Flecken übersät, erste Anzeichen der Verwesung. Nicht Hunderte. Tausende.
Es war kein Schnee mehr zu erkennen, nur noch Körper, die sich dicht um ihn herumdrängten, so viele Körper, ein überwältigender Ansturm.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Die Finger bestanden aus Knochen. Sie gehörten zu einem Skelett ohne Fleisch, Haut und Haare, in Kleiderfetzen gehüllt. Eine andere Hand schob sich nach vorne, berührte ihn am Kinn. Eine packte ihn am Arm. Und eine weitere umfasste sein Bein. Unmöglich, diese Menge zu erfassen, die auf ihn eindrängte.
Der andere drückte ihm die Hand, und Philip sah überrascht zu ihm. Sein Alter Ego war noch immer da, aber Philip hatte ihn nicht mehr wahrgenommen. Der andere wies auf die wankenden Gestalten, als wollte er sie zum Kauf anbieten. Er streifte einige der Leichen. Es machte ihm nichts aus. Zwanzig Jahre stumpften ab. Er deutete auf das endlose Meer aus toten Gesichtern, das vor ihnen wogte und brausend um Rettung flehte. »Glaubst du, du kannst alle Seelen retten? Du? Du allein mit deinen Fähigkeiten?«
Philip hätte den anderen am liebsten am Kragen gepackt, ihn geschüttelt, bis er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Und dabei hätte er ihm gesagt, dass dieses Elend ihn nicht kalt ließ, dass er helfen wollte, egal, wie viel Kraft und Zeit es ihn kostete. Wenn es seine Aufgabe war, dann würde er sie erfüllen. Und wenn dem anderen das nicht passte, dann sollte er dorthin
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