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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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zurückkehren, woher er gekommen war. Er würde schon alleine die zwanzig Jahre überstehen. Zum Teufel mit ihm!
    Nach wie vor traten weitere Leichen aus dem Nichts hervor, krochen aus den schneebedeckten Gebüschen und erhoben sich aus dem Graben jenseits der Startbahn, als hätten sie dort schon seit Jahrzehnten gelegen und voller Sehnsucht nur auf diesen Tag gewartet.
    Sie grapschten nach ihm, einer nach dem anderen verstärkten sie den Druck ihrer Knochenfinger auf Philips Schulter, immer verzweifelter, bis sie ihn am ganzen Körper mit ihren hilflosen Händen bedeckten.
    Noch etwas zerrte an ihm. Eine gewaltige Kraft, nicht von dieser Welt. Etwas blitzte vor seinen Augen auf. Dann wurde er fortgerissen.
     
     
    Irgendwo
     
    Jakob Kahlscheuer vergaß seine Krankheit. Nicht dass die quälenden Schmerzen der Gicht nachgelassen hätten, aber angesichts dessen, was sich vor seinen Augen abspielte, verloren sie jede Bedeutung. Seine Zweifel wurden zerstreut, ebenso wie die Angst und die Wut, die an ihm genagt hatten.
    Ich glaube!
    Zwei Worte nur, die er plötzlich nicht mehr zu hinterfragen brauchte. Wenn das, was er jetzt vor Augen hatte, die Erklärung war für Philip Haders sonderbares Verhalten, wenn es der Grund für Eleonore Berders grausigen Tod war, wenn es das Motiv für die Gewalt des Vatikans war, nun, dann verstand er. Und noch viel mehr. Denn er, Kahlscheuer, war in dieser Sekunde Zeuge der wunderbaren Erscheinung.
    Warum ausgerechnet ich?
    Die Antwort stand nun klar vor seinen Augen. Weil er der zweifelnde Priester war, der sich abseits des göttlichen Weges befand. Es war ein Zeichen. Hieß es: »Denn wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt. Es dient zu eurer Erziehung, wenn ihr dulden müsst…Jede Züchtigung aber, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Leid zu sein; danach aber bringt sie als Frucht denen, die dadurch geübt sind, Frieden und Gerechtigkeit.«
    All diese verlorenen Seelen. Umso vieles verzweifelter als er. Sie brauchten Hilfe. Frieden und Gerechtigkeit.
    Darum ausgerechnet du!
    Was für eine Ehre wurde ihm zuteil. Was für eine Verlockung. Eine Aufgabe.
    Eine Stimme grub sich in sein Bewusstsein. Eine kratzende Stimme, die unangenehme Erinnerungen weckte.
    Er neigte sein Haupt, spürte nicht die Schmerzen, die in seinen Gliedern tobten. Zwischen all den Toten tauchte ein Gesicht auf, in dem zwar auf unheimliche Weise keinerlei Leben geschrieben stand, das aber dennoch nicht hierhergehörte. Es näherte sich ihm mit einer Geschwindigkeit, als könnte der vereiste Boden ihm nichts anhaben. Es lächelte. Ein Lächeln wie eine Waffe, die man nur zu zücken brauchte, um den Gegner zu vernichten. »Sie Narr, ich hätte Sie gleich bei unserer ersten Begegnung umbringen sollen!«
    Ein Messer blitzte vor Kahlscheuers Augen auf. Ein Schrei löste sich aus seiner erkalteten Kehle.
    Er wollte nicht sterben. Nicht in jenem Augenblick, in dem ihm das Wissen seiner wahren Berufung zuteil geworden war. Er wollte leben. Die Toten brauchten doch die Lebenden.
    »Nicht jetzt.«
    Vielleicht stieß er die Worte hervor. Vielleicht dachte er sie aber auch nur. Mit vor Schreck weit aufgerissenem Mund drehte er seinen gegen die Anstrengung protestierenden Leib um die eigene Achse und brachte sich vor dem tödlichen Stich in Sicherheit.
     
     
    Berlin
     
    »Nicht jetzt!«, schrie eine Stimme.
    Eine starke Kraft entriss Philip der vielfachen Umklammerung des Todes. Seine Finger glitten aus der Hand des anderen, die Leichen verschwanden vor seinen Augen, hinterließen nicht einmal Staub oder Knochen, nur Eis und Schnee. Die Sicht klärte sich, die Wolkenfelder des Sturms lösten sich auf. Die Abfertigungshallen erhoben sich wieder als graue Schemen am Horizont, nicht weit davon entfernt konnte er den Flughafen-Tower erkennen.
    Philip hatte noch Zeit zu begreifen, dass es Kahlscheuer war, der seinen Arm um ihn gelegt hatte. In diesem Moment spürte er auch schon die Kälte, die in seinen Unterleib drang. Kalt wie Stahl.
    Erschrocken japste er nach Luft. In seinem Inneren explodierte ein Feuerball, breitete sich aus. Der Widerstreit dieser Empfindungen ließ ihn wanken. Hilfe suchend sah er sich nach dem anderen um. Der war in den Hintergrund getreten, hielt mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid Abstand.
    Dann versperrte ein grinsender Mann Philips Blick. Er war glatzköpfig, bleich und pockennarbig. Obwohl in seinem Magen ein Feuer zu lodern schien,

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