Macht der Toten
meine Gefangene sind. Wir gehen zusammen.«
»Wer sagt mir, dass Sie ihn nicht wie meinen Großvater verschwinden lassen, sobald ich Sie zu ihm geführt habe.«
»Ich verspreche es!«
Beatrice schätzte ihn aufmerksam ab. Noch immer wunderte sie sich über die Veränderung, die so schnell Besitz von ihm ergriffen hatte. Von einem Moment auf den nächsten. Wie der Tod seines Vaters. War es nur eine Finte von ihm? Ein Blick auf das Achat erinnerte sie daran, dass es noch mehr Sachen gab, die ihr Kopfzerbrechen bereiteten. Da passte ein Priester, der sich vom Saulus zum Paulus wandelte, gerade recht ins Bild. Und die Uhr tickt unaufhaltsam vorwärts.
»Noch einmal«, sagte er und hustete. »Ich verspreche es.«
Sie nickte, hob das blutverschmierte Achat auf, legte es zurück in die Schatulle und packte diese in ihren Rucksack, bevor sie ihn sich über die Schulter warf. »Dann kommen Sie!«
Er stand auf und durchquerte den Raum. Er riss einen Streifen vom Stoff der Matratze. Als sie ihn fragend anschaute, deutete er auf seine gerötete Nase. »Ich hab keine Taschentücher mehr.«
Er ging zur Tür und schloss auf. Wie sie vermutet hatte, befanden sie sich in einem unterirdischen Bunker. Ein schmaler Gang führte von der Kammer weg. Alle paar Meter hingen Glühbirnen von der Decke, warfen konzentrische Kreise auf den spröden, staubigen Boden. Dazwischen wucherten immer wieder Schatten, ein unheimliches Wechselspiel zwischen Licht und Dunkelheit.
Cato führte sie durch ein Labyrinth aus Tunneln. Der Geruch abgestandener Luft kroch in ihre Nase. Dann roch sie Schimmel. Einmal sogar Urin. Sie begann durch den Mund zu atmen. Kurz darauf spürte sie einen pelzigen Geschmack auf der Zunge.
Cato schien sich nicht daran zu stören. Wahrscheinlich war er die Ausdünstungen hier unten gewohnt. Oder seine Nase war so stark verschnupft, dass er es nicht mehr roch. Er lief weiter, durch einen Torbogen und in einen weiteren schmalen Stollen hinein, der einen Bogen beschrieb. Gelegentlich zweigten Tunnel ab, die sich in der Dunkelheit verloren.
Beatrice lauschte in die Finsternis. Die dicke, feuchte Luft kam ihr wie Watte vor, die alle Geräusche dämpfte. Dann aber hörte sie doch etwas: ein dumpfes Grollen über ihrem Kopf, das wie weit entfernter Donner klang. Es weckte eine Erinnerung an die finstere Gasse in London, in der sie erwacht war. Es war das Röhren einer U-Bahn. Es wurde lauter.
»Hier entlang«, sagte er und deutete auf rostige Stiegen, die senkrecht in die Höhe führten. Schneeflocken rieselten von oben herab. »Sie zuerst.«
Also erklomm sie als Erste die Leiter. Als sie oben ankam, musste sie einen Gitterrost beiseiteschieben. Sie reckte den Kopf aus dem Loch. Die Stadt war hinter einer dichten Schneewand verborgen. Der Sturm trieb die Flocken vor sich her. Die Lichter der Straßenlaternen durchdrangen nur spärlich das weiße Treiben.
»Was ist?«, hörte sie Catos dumpfe Stimme unter sich. »Warum klettern Sie nicht raus?«
Für den Bruchteil einer Sekunde zog sie in Erwägung, ihm ihre Schuhe ins Gesicht zu treten und die Flucht zu ergreifen. Aber es kam ihr falsch vor. Sie musste ihren Bruder retten, und wenn Cato sein Versprechen ernst meinte, konnte er ihr eine große Hilfe sein.
Sie zwängte sich aus dem Schacht und wartete, bis er neben ihr stand. Wieder fiel ihr seine Soutane auf. Dass er nicht fror? »Und jetzt?«, rief er gegen das Heulen des Windes an.
»Wir müssen zum Flughafen.«
»Welcher?«
Sie rief sich die Bilder in Erinnerung, die ihr das Achat im Tresorraum der Royal Bank of Scotland in London offenbart hatte. »Schönefeld!«
»Und wie kommen wir dahin?«
Sie passierten eine Straße. »Mit einem Taxi?«
»Vergessen Sie’s«, erklärte er. »Wo wollen Sie jetzt ein Taxi herbekommen?«
Es waren nur wenige Autos auf den verschneiten Straßen unterwegs. Orangefarbene Blitze durchschnitten das Schneetreiben in einem bizarren Rhythmus. Selbst das Räumfahrzeug der Stadtwerke hatte Mühe, sich gegen die Massen durchzusetzen, die auf dem Asphalt niedergingen.
Cato sprang auf die Straße. Er breitete die Arme aus und gestikulierte wild. Erst in letzter Sekunde bemerkte der Fahrer ihn. Bremsen heulten auf, die riesige Schaufel schepperte über den gefrorenen Asphalt. Der LKW kam zum Stehen, wenige Zentimeter vor dem Priester.
Der Fahrer fuchtelte aufgebracht hinter der Fensterscheibe, zeigte ihm einen Vogel. Beatrice erklomm die zwei Stiegen zu der Fahrerkabine, klopfte gegen die
Weitere Kostenlose Bücher