Macht des Schicksals - Spindler, E: Macht des Schicksals
immer noch drei Mal so viel wie in ihrer Heimat. Und sie kehrten jedes Jahr zur Erntezeit zurück. Aus freien Stücken. Das musste doch etwas bedeuten.
Er presste verbittert seine Lippen aufeinander, bis sie eine schmale Linie bildeten. Alyssa war eine dieser leidenschaftlichen Liberalen gewesen. Und sie hatte die Frechheit besessen, ihn vor der ganzen Familie als Tyrannen zu bezeichnen. Da hatte Sal erkannt, dass sie niemals eine echte Dassante werden würde. Aber Mario, der mit seinem Unterleib dachte, wenn es um Frauen ging, wollte ja nicht auf ihn hören.
„Gib ihr Zeit, Pa“, sagte er immer. „Sie wird sich schon wieder beruhigen.“
Aber dazu war es nicht gekommen. Und als Mario endlich einsah, dass Alyssa eine Unruhestifterin war, da war es schon zu spät.
Der Gedanke an diese Nacht, an den Leichnam seines Sohns, der mit zerschmettertem Schädel am Boden lag, ließ Sal leise aufstöhnen. Es war eine Nacht, die er niemals vergessen würde. Er war früh zu Bett gegangen und schlief fest, als plötzlich an seine Schlafzimmertür geklopft wurde.
„Komm schnell nach unten, Pa!“ hatte sein jüngerer Sohn gerufen. „Etwas ist mit Mario passiert.“
Sal war in seinem Schlafanzug die Treppe hinunter und nach draußen gerannt, wo er Nico auf dem Boden kniend vorfand, der seinen toten Bruder in den Armen hielt.
„Sie hat ihm umgebracht, Pa“, schluchzte Nico, während er sich zu Sal umdrehte. „Das Luder hat meinen Bruder getötet.“
Mit Mario war auch ein Teil von Sal gestorben. In dem Moment hatte er geschworen, den Tod seines Sohns zu rächen. Er würde Alyssa finden, und dann würde er sie töten.
Aber allen Bemühungen und allem Geld zum Trotz hatte Alyssa alle an der Nase herumgeführt: die Behörden, Detective Mertz, sogar die beiden Privatdetektive, die Sal auf sie angesetzt hatte, ehe er sich vor zwei Jahren an Joe Kelsey gewandt hatte.
Kelsey, ein FBI-Mann, der wegen Alkoholproblemen vorzeitig in den Ruhestand gegangen war, hatte es geschafft, und er würde es wieder machen. Er würde Alyssa finden. Und mit ein wenig Glück würde Gregory Shaw ihn direkt zu ihr führen.
Mit gesenktem Blick betrachtete Sal seine kräftigen Hände. Der kleine Salvatore ist nicht mehr so hager, dachte er mit einem stummen Lachen. Auch jetzt, mit vierundsiebzig Jahren, rühmte sich Sal, noch immer so stark wie ein Stier zu sein. Jeden Tag stand er um fünf Uhr morgens auf, machte zwanzig Liegestütze und zog zehn Minuten lang seine Bahnen im Pool hinter dem Haus.
Ich sehe nicht nach vierundsiebzig aus, fand er, während er im geöffneten Fenster sein Spiegelbild betrachtete. Auch wenn er fast völlig ergraut war, hatte er noch immer volles Haar, das er mit Pomade streng nach hinten gekämmt trug. Seinen scharfen alten Augen entging nichts.
Jetzt fühlte er sich nach den Mitteilungen von Kelsey und Mertz noch besser – mit neuem Leben erfüllt, versessen darauf, etwas zu tun, so wie nach seiner täglichen kalten Dusche. Alyssa lebt. Diese Worte tanzten in seinem Kopf wie eine Tarantella umher, entwickelten ein Eigenleben und erfüllten ihn mit einer Begeisterung, die er nicht mehr verspürt hatte, seit er siebzehn gewesen war.
Die Zeit war gekommen, um der Familie die gute Nachricht zu vermelden und ihr zu sagen, dass er mit Chief Vernon über eine Wiederaufnahme des Falls reden wollte. Nicht, dass er dafür von irgendjemandem eine Erlaubnis benötigt hätte, doch um des lieben Friedens willen würde er ein Familientreffen einberufen.
Sie kamen sofort zu ihm, sein Sohn Nico und seine Schwiegertochter Erica, die immer noch bei ihm im Haus lebten.
„Pa.“ Schnell durchquerte Nico den Raum und gab seinem Vater einen Kuss auf die Wange. „Ich dachte, du würdest mit deinen Freunden Boccia spielen.“
Der dunkelhaarige Nico, der einen Kopf größer war als Sal, hatte von seiner Mutter das einfache Aussehen und die Dummheit geerbt, während Mario nach seinem Vater gekommen war, scharfsinnig und ungeschliffen.
„Dazu hatte ich heute keine Lust“, sagte Sal.
„Warum nicht?“ fragte Erica. Die attraktive Brünette mit mütterlichen Instinkten setzte sich neben ihn auf das Sofa und machte ein besorgtes Gesicht. „Fühlst du dich nicht wohl?“
Sal sah seine Schwiegertochter zärtlich an. Sie war eine richtige Dassante – ruhig, liebenswürdig, respektvoll und eine gute Ehefrau für Nico. Zu schade, dass der Schwachkopf unfruchtbar war und nicht den innigsten Wunsch seiner Frau nach einem Kind hatte
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