Macht des Schicksals - Spindler, E: Macht des Schicksals
dieses Treffen bat, hatte sie Ambrose noch versprochen, dass sie ihre Fassung nicht verlieren würde, ganz gleich, welche Ausreden Annie vorbringen würde. Aber jetzt war sie nahe daran, dieses Versprechen zu brechen. Langsam zählte sie bis zehn.
„Was genau hatte Grandma gesagt?“ fragte sie, als sie sicher war, dass ihre Stimme ruhig sein würde.
Annie sah hinunter auf ihre Hände, die sie verschränkt in den Schoß gelegt hatte. „Sie sagte: ,Sag Rachel, dass ihre leibliche Mutter Alyssa lebt.‘ Und dann sagte sie, dass eine Schwester Mary-Catherine in Santa Rosa weiterhelfen könnte.“
Rachel schloss die Augen und stellte sich vor, wie Annie Grandma in den Armen hielt, die im Sterben lag und gegenüber ihrer geliebten Enkelin einen letzten Wunsch aussprach. „Warum musstest du zu Gregory Shaw gehen? Warum bist du nicht selbst nach Santa Rosa gefahren?“
„Ich wollte da nicht persönlich auftauchen. Und ich wusste, dass Gregory diskret sein würde.“
„Und er war einfach so einverstanden, dir zu helfen?“
„Nein, nicht einfach so.“ Wieder sah Annie von Rachel zu Ambrose. „Ich habe ihm nicht gesagt, woher ich von Alyssa wusste. Ich habe ihm erklärt, sie sei eine alte Freundin von Mama gewesen. Und jetzt, nachdem Grandma tot und ich ganz alleine war, wollte ich sie finden.“
„Und das hat er dir abgenommen?“
Sie senkte erneut den Blick. „Ich schätze, ich war ziemlich überzeugend.“
Ja, dachte Rachel und erinnerte sich an Annies unzählige Tricksereien, als sie gemeinsam aufwuchsen. Überzeugend zu sein, war eine der vielen Begabungen ihrer Schwester. „Du hast also nicht nur den letzten Wunsch von Grandma ignoriert“, sagte sie kühl, „sondern du wolltest diese Information auch noch für deine eigenen niederträchtigen Zwecke benutzen.“
„Nein“, sagte sie starrköpfig. „Ich habe doch gesagt, dass ich daran gar nicht gedacht hatte.“
„Und was wolltest du dann mit der Information anfangen?“
Annie rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her. „Ich ... ich weiß nicht. Nichts. Ich war einfach nur neugierig, weiter nichts. Ich wollte wissen, warum Grandma und unsere Eltern uns Alyssas Existenz all die Jahre über verschwiegen hatten.“
„Du hast nur gehofft, dass du einen Skandal zutage förderst, der mich zwingt, Spaulding Vineyards aufzugeben.“
„Verdammt, Rachel, das ist nicht wahr.“ Annie gelang ein so entrüsteter Gesichtsausdruck, dass Rachel ihr fast glaubte. „Ich weiß seit einigen Tagen von deiner wahren Identität“, fuhr sie fort. „Aber habe ich ein Wort gesagt?“ fragte sie und sah Rachel direkt an. „Bin ich vielleicht zur Zeitung gerannt und habe erklärt, dass Lillie Dassante nicht tot ist, sondern hier mitten unter uns im Napa Valley lebt? Oder bin ich vielleicht zu Ihnen gekommen, Ambrose?“
„Warum nicht?“ wollte Rachel wissen.
„Weil ich niemandem schaden wollte, erst recht nicht dem Weingut.“
Das, so dachte Rachel, war Annies einzige Rettung. Sie liebte Spaulding Vineyards genauso, wie sie selbst es tat. Vielleicht nicht aus den gleichen Gründen, aber sie liebte das Weingut genauso.
Ambrose hatte das offenbar auch bemerkt, denn er sah Rachel an und zuckte hilflos mit den Schultern, als wolle er sagen: Annie wird sich nie ändern.
Als Rachel ein Nicken andeutete, setzte er wieder seine Brille auf. „Also gut, bringen wir diese Sache hinter uns. Rachel hat um dieses Treffen gebeten, weil sie Bedenken hatte, was die Bedingungen von Hannahs Testament angeht und wie sich die jüngsten Entwicklungen auf ihr Eigentum an Spaulding Vineyards auswirken könnten. Als Testamentsvollstrecker bin ich fest davon überzeugt, dass von Rachels Seite kein Verstoß begangen wurde. Aus diesem Grund bleibt die bisherige Situation bestehen.“
Er blickte über den Rand seiner Brille: „Was Sie angeht, Annie, muss ich sagen, dass ich Ihr Verhalten in dieser Angelegenheit abstoßend finde.“ Er seufzte. „Da es nicht an mir liegt, darüber zu urteilen, lasse ich Rachel entscheiden, wie sie mit Ihnen verfahren will.“
„Was?“ Annie sah zu Rachel. „Willst du mich etwa rausschmeißen? Ist das die Absicht hinter diesem Treffen?“
Trotz ihrer Verärgerung musste Rachel lächeln. Egal, wie sehr sich Annie danebenbenahm, sie sah sich immer als das Opfer. Und sie wusste zudem auch noch, wie sie andere dazu bringen konnte, sich ihrer Ansicht anzuschließen.
Der Gedanke, ihr zu kündigen, war verlockend, aber unpraktisch. Annie war eine
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