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Macht (German Edition)

Macht (German Edition)

Titel: Macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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Zielstrebigkeit.
    Im elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert waren Könige im Allgemeinen unwissend, während die Päpste sowohl gelehrt wie auch wohlunterrichtet waren. Dazu waren die Könige mit dem feudalistischen System verbunden, das zu Störungen neigte, ständig der Gefahr der Anarchie ausgesetzt und den neuen wirtschaftlichen Kräften feindlich gesinnt war. Im Ganzen vertrat die Kirche in diesen Jahrhunderten eine höhere Zivilisation als der Staat.
    Die bei weitem größte Kraft der Kirche war die moralische Achtung, die sie einflößte. Sie erbte als eine Art moralischen Kapitals den Ruhm der in früheren Zeiten erduldeten Verfolgungen. Ihre Siege waren, wie wir gesehen haben, mit der Durchsetzung des Zölibats verbunden, und die mittelalterliche Betrachtungsweise fand das Zölibat sehr eindrucksvoll. Sehr viele Männer der Kirche, unter denen sich nicht wenige Päpste befanden, ertrugen lieber schwere Entbehrungen, als dass sie in einem Punkt des Prinzips nachgegeben hätten. Es war für gewöhnliche Leute klar, dass in einer Welt entfesselter Raubgier, Verworfenheit und Selbstsucht hervorragende Würdenträger der Kirche nicht selten für unpersönliche Ziele lebten, denen sie willig ihr Schicksal unterordneten. In mehreren aufeinanderfolgenden Jahrhunderten beeindruckten heilige Männer, wie Hildebrand, St. Bernhard und St. Franziskus, die öffentliche Meinung und verhinderten den moralischen Misskredit, der sonst durch die Untaten anderer verursacht worden wäre.
    Einer Organisation, die ideale Ziele und damit eine Entschuldigung für Machtliebe hat, kann jedoch der Ruf ungewöhnlicher Tugend gefährlich werden. Auf die Dauer muss ein solcher Ruf nur ungewöhnliche Skrupellosigkeit mit sich bringen. Die Kirche predigte Verachtung für die Dinge dieser Welt und gewann dadurch Herrschaft über Monarchen. Die Bettelmönche leisteten das Gelübde der Armut, was die Welt so beeindruckte, dass sie den bereits ungeheuren Reichtum der Kirche weiter vermehrte. Indem der heilige Franziskus brüderliche Liebe predigte, rief er die zur siegreichen Fortführung eines langen und grausamen Krieges erforderliche Begeisterung hervor. Schließlich verlor die Renaissancekirche jeden moralischen Sinn, dem sie Reichtum und Macht verdankte, und der Stoß der Reformation war zu ihrer Erneuerung notwendig.
    All das ist unvermeidlich, wann immer höhere Tugend als Mittel zur Gewinnung tyrannischer Macht für eine Organisation gebraucht wird.
    Außer wenn durch fremde Eroberung verursacht, ist der Zusammenbruch traditioneller Macht immer das Ergebnis ihres Missbrauchs durch Menschen, die, wie Machiavelli, glauben, dass ihre Herrschaft über den menschlichen Verstand zu fest ist, als dass sie selbst durch die gröbsten Verbrechen erschüttert werden könnte.
    In den Vereinigten Staaten wird heutzutage die Verehrung, die die Griechen den Orakeln und das Mittelalter dem Papst entgegenbrachten, dem Obersten Gerichtshof gezollt. Wer den Mechanismus der amerikanischen Verfassung studiert hat, weiß, dass der Oberste Gerichtshof ein Teil jener Kräfte ist, die dem Schutz der Plutokratie dienen. Aber von den Menschen, die das wissen, ist ein Teil auf der Seite der Plutokratie. Sie werden daher nichts tun, was geeignet wäre, die traditionelle Verehrung des Obersten Gerichtshofes herabzumindern. Die anderen hingegen werden in den Augen des durchschnittlichen ruhigen Bürgers diskreditiert, indem man sie zersetzend und bolschewistisch nennt. Eine beträchtliche Weiterentwicklung parteimäßigen Charakters wird notwendig sein, bevor ein Luther imstande sein wird, erfolgreich die Geltung offizieller Interpreten der Verfassung anzugreifen.
    Theologische Macht wird durch eine militärische Niederlage viel weniger betroffen als weltliche Macht. Es ist wahr, dass Russland und die Türkei nach dem Weltkrieg sowohl eine theologische wie auch eine politische Revolution durchlebten, aber in beiden Ländern war die traditionelle Religion engstens mit dem Staat verknüpft. Das wichtigste Beispiel für theologisches Überleben trotz militärischer Niederlage ist der Sieg der Kirche über die Barbaren im fünften Jahrhundert. Der heilige Augustin erklärte im »Gottesstaat«, der durch die Plünderung Roms inspiriert wurde, dass es nicht zeitliche Macht war, die dem wahren Gläubigen versprochen worden war, und dass sie daher nicht als Ergebnis festen Glaubens erwartet werden konnte. Die überlebenden Heiden im Reich behaupteten, dass Rom besiegt

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