Macht (German Edition)
Macht gesprochen, aber auf wirtschaftlichem Gebiet ist nackte Gewalt mindestens ebenso wichtig. Marx betrachtete alle wirtschaftlichen Beziehungen, mit der Ausnahme der sozialistischen Gemeinschaft der Zukunft, als gänzlich unter der Herrschaft nackter Gewalt. Im Gegensatz dazu behauptete einmal der verstorbene Ehe Halevy, der Historiker des Benthamismus, dass, kurz gesagt, ein Mann für seine Arbeit das erhalte, was sie ihm selber wert sei. Ich bin überzeugt davon, dass das auf Schriftsteller nicht zutrifft: ich habe, in meinem eigenen Fall, immer gefunden, dass ich, je höher ich den Wert eines Buches schätzte, desto weniger dafür erhielt. Und wenn erfolgreiche Geschäftsleute wirklich glauben sollten, ihre Arbeit sei so viel wert wie sie einbringt, müssten sie noch dümmer sein, als sie aussehen. Nichtsdestoweniger ist ein Körnchen Wahrheit in Haleyys Theorie enthalten. In einer stabilen Gemeinschaft darf es keine zahlreiche Klasse mit dem brennenden Bewusstsein von Ungerechtigkeit geben. Man darf daher annehmen, dass dort, wo keine große wirtschaftliche Unzufriedenheit herrscht, die meisten Menschen sich nicht wesentlich unterzahlt fühlen. In jenen unentwickelten Gemeinwesen, in denen das Auskommen eines Menschen eher vom Herkömmlichen als vom Vertrag abhängt, wird er in der Regel alles übliche als gerecht empfinden. Aber selbst in diesem Falle verwechselt Halevys Formel Ursache und Wirkung: Der Brauch ist die Ursache des menschlichen Gefühls für das, was gerecht ist, und nicht umgekehrt. In diesem Falle ist wirtschaftliche Macht traditionell. Sie wird nur dann nackt, wenn alte Bräuche verletzt oder aus irgendeinem Grund der Kritik unterworfen werden.
Im Kindesalter des Industrialismus gab es keine Bräuche für die Regulierung der zu zahlenden Löhne, und die Angestellten waren noch nicht organisiert. Infolgedessen beruhte die Beziehung zwischen Unternehmer und Angestelltem auf nackter Gewalt, das heißt innerhalb der vom Staat zugelassenen Grenzen, und diese Grenzen waren zunächst sehr weit gesteckt. Die orthodoxen Ökonomen hatten gelehrt, dass die Löhne ungelernter Arbeiter immer das Bestreben hätten, zum Existenzminimum hinabzusinken, sie hatten aber nicht erkannt, dass dies vom Ausschluss der Lohnempfänger von der politischen Macht und vom Gemeinnutz abhing. Marx sah, dass es sich um eine Machtfrage handelte, aber er unterschätzte meiner Meinung nach die politische im Verhältnis zur wirtschaftlichen Macht. Die Gewerkschaften, die die Macht der Lohnempfänger unermesslich vergrößern, können dann unterdrückt werden, wenn die Lohnempfänger an der politischen Macht keinen Anteil haben; eine Reihe gesetzlicher Entschließungen würde die Gewerkschaften in England verkrüppelt haben, wenn nicht die städtischen Arbeiter seit 1868 das Stimmrecht gehabt hätten. Unter der Voraussetzung von Gewerkschaften werden die Löhne nicht mehr von nackter Gewalt festgelegt, sondern auf dem Wege des Verhandeln wie beim Kauf und Verkauf von Gebrauchsgegenständen.
Die Rolle nackter Gewalt in der Wirtschaft ist bei weitem größer, als man gedacht hatte, bevor der Einfluss von Marx wirksam geworden war. In einigen Fällen tritt dies klar hervor. Die Beute, die ein Straßenräuber seinem Opfer oder ein Eroberer einer besiegten Nation abnimmt, ist ohne jeden Zweifel eine Sache nackter Gewalt. Ebenso Sklaverei, wenn der Sklave seinem Los nicht aus alter Gewohnheit zustimmt. Eine Zahlung wird durch nackte Gewalt erpresst, wenn sie trotz des Unwillens der zahlenden Person getätigt wird. Ein solcher Unwillen besteht in zwei Kategorien von Fällen: wo die Bezahlung nicht üblich ist und wo infolge einer Änderung der Ansichten das Übliche für unrecht angesehen wird. Früher hatte ein Mann die volle Kontrolle über das Eigentum seiner Frau, die Frauenbewegung aber gab Anlass zu einer Empörung gegen diesen Brauch, was zu einer Änderung des Gesetzes führte. Unternehmer waren einstmals ihren Angestellten gegenüber für Unfälle nicht verantwortlich; auch hier kam es zu einem gefühlsmäßigen Wechsel, der eine Veränderung des Gesetzes nach sich zog. Es gibt zahllose ähnliche Beispiele.
Ein Lohnempfänger, der Sozialist ist, kann es als ungerecht empfinden, dass sein Einkommen niedriger als das seines Arbeitgebers ist; in diesem Fall führt nackte Gewalt sein Einverständnis herbei. Das alte System wirtschaftlicher Ungleichheit ist traditionell und erregt an sich keinen Unwillen, außer bei denen, die
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