Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
ausreichende Hinweise dafür gab, dass sich etwas zusammenbraut hinter den Kulissen, dass man den Loyalitätsbeteuerungen der längst identifizierten Querulanten nicht trauen sollte. Ihr habe einfach die Phantasie gefehlt, sagt sie und sucht mit festem Blick nach Verständnis für die »Unfassbarkeit einer Meuchelei dieses Ausmaßes«. Im Nachhinein sei ihr erst bewusst gewesen, wie massiv die »Drohgebärden« waren, die ihr düpierter Parteirivale immer wieder aufgebaut hatte. Jahre zuvor war er ihr bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden nach hart geführtem Duell unterlegen, das hat ihn nachhaltig gekränkt. Und dann die Irreführungen zweier seiner Komplizinnen, die sich während einer Fraktionssitzung, wenige Wochen vor der Sabotage, das gegen sie bestehende Misstrauen in einer wehleidigen Erklärung verbaten und in flauschigen Worten ihre Unterstützung versicherten.
Den Tag, als »die Vier«, die mit diesem Label in die Geschich- te der hessischen SPD eingingen, in einer Pressekonferenz bekanntgaben, dass sie eine Regierungsbildung mit Duldung der Linken nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten und dieser plötzlichen Erkenntnis Andrea Ypsilantis Ministerpräsidentinnen-Pläne und ihrer Partei die Landesregierung opferten, erinnert sie nur noch verschwommen: »Da habe ich einen Blackout.« Sie weiß noch, dass sie im Auto unterwegs war und unmittelbar, nachdem sie von der Pressekonferenz erfuhr, versuchte, mit den Abtrünnigen zu telefonieren. »Da war nichts zu machen, deren Entscheidung stand felsenfest.« Als sie aufgelegt hatte, glaubt sie, sich zu erinnern, gab es so eine Sekunde, in der sie dachte: »Gott sei Dank, jetzt ist alles vorbei.« Aber der Erlösungsimpuls hielt nur kurz an. Sie wusste zu gut, was jetzt noch von ihr gefordert war.
Wie in Trance habe sie den Tag erlebt, den sie heute beschreibt, als sei es nicht ihr Tag gewesen. Endlose Diskussionen, geteilte Empörung, öffentliche Erklärungen, sie hat alles soldatisch abgearbeitet. »Wie, das weiß ich nicht mehr, ich habe einfach den Autopilot eingeschaltet. Aber ich glaube, ich hab das gut gemacht.« Ihre Leute jedenfalls sagten ihr danach, es sei unmenschlich gewesen, wie sie den Interview- und Besprechungsmarathon absolviert habe.
Am Abend des medienwirksamen Schauspiels der Verschwörer und dem Ende ihrer Zukunft als Ministerpräsidentin ist sie nach Hause gegangen. Dankbar für die Geborgenheit, die ihre Familie bot. Auch wenn ihr niemand ihre Schuldgefühle nehmen konnte. Sie habe längst keine Angst mehr gehabt vor weiterer Häme. Aber sie fühlte sich »so verdammt schuldig«, weil sie all jene enttäuscht hatte, die an sie geglaubt haben. Und an eine gerechtere Politik in Hessen. Sie war erleichtert an diesem Abend, als ihr Fahrer sie endlich vor ihrem Zuhause absetzte, und ahnte nicht, dass der schwerste Moment noch vor ihr lag.
Manchmal verursacht Mitgefühl das größte Leid. »Jetzt war alles umsonst.« Gesagt hat das ihr zwölfjähriger Sohn. Und da erst hat sie verstanden, wie sehr er Anteil nahm, an all den Verletzungen, die sie erlitten und von ihm fernzuhalten versucht hatte. Die Schärfe der Verunglimpfungen machte auch vor ihrer Haustür nicht halt, so sehr sie sich auch darum bemühte. »Irgendwann habe ich im Zimmer meines Sohns einen dieser abscheulichen Zeitungsartikel gefunden, das hat mich total geschockt«, illustriert sie denjenigen Kummer, den sie längst nicht mehr im Dienste der Sache abzutun imstande war.
Dazu gehörte auch eine Pressekonferenz zur Bildungspolitik, die Roland Kochs Wahlkampfteam ausgerechnet an der Schule ihres Sohns initiierte. Das war eine der Grenzüberschreitungen, die ihren Erzählfluss stocken lassen, wenn sie daran zurückdenkt. In diesen Gesprächssequenzen ist das kraftraubende Tauziehen zwischen dem entschlossenen Willen zur Verarbeitung und Klärung und der anhaltenden Gebrochenheit besonders fühlbar. Zu erleben, wie ihre Familie, ihre ganze Wohngemeinschaft aus den Fugen geriet, war das Schlimmste für sie. Jetzt habe sich alles wieder eingependelt. Drei Jahre später.
Vermutlich sind es diese Erfahrungen, die aufreibende Rückeroberung der Normalität, die sie so wund wirken lassen. Auch wenn sie sagt, sie habe ihren Frieden gefunden. Nicht mehr Getriebene zu sein zum Beispiel empfindet sie als Gewinn. Sie hat mehr Zeit für ihre Familie, die noch viel enger zusammengerückt ist seither. Das ist schön. Ihr Sohn ist schneller erwachsen geworden. Das hätte sie ihm gern
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